Über Bücher

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Leben in der „Verbotenen Zone“

Angelika Schneeberger empfiehlt „Baba Dunjas letzte Liebe“ von Alina Bronsky

„Lies das mal“, mit diesen Worten drückt mir eine Freundin ein dünnes Buch in die Hand. „Wird dir bestimmt gefallen.“ Beim Blick auf den Einband bin ich eher skeptisch. Er zeigt einen Birkenstamm, grafisch schwarz-weiß, daneben eine jüngere Frau mit Kopftuch, gekleidet in Bluse und Schürze, alles auf hellblauem Grund, der Buchtitel füllt den Rest des Covers aus. Wirkt sehr altmodisch auf mich. „Es handelt von einer Frau, die nach Tschernobyl zurückgekehrt ist. Aber nicht so wie du vielleicht denkst.“

Die Rezensentin Angelika Schneeberger. Foto: Frank Schneeberger

Ich erwarte tatsächlich ein Buch, das sich mit den Verwerfungen in einem radioaktiv verseuchten Ort beschäftigt. So ist es auch, aber doch in ganz unerwarteter Art und Weise. Baba Dunja kehrt in ihr Dorf zurück, das nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl von seinen Bewohnern verlassen werden musste.

Es gibt noch eine weitere Handvoll Ehemaliger, die sich wieder einfinden. Hier ist das Leben geprägt von Abgeschiedenheit und Stille, von einer wieder erwachten üppigen Natur. Besucher wagen sich normalerweise eher nicht in den Ort.

Baba Dunja ist bereits eine alte Frau, aber erfinderisch darin, ihrem Leben Versorgung und Struktur zu geben. Wasser liefert ein alter Brunnen, Gemüse und Kräuter der Garten. Ab und zu kann ein Huhn für mehrere Mahlzeiten zubereitet werden. Dabei wird untereinander geteilt.

Die übrigen Dorfbewohner entpuppen sich als eigenwillig, bisweilen mit skurrilen Ideen. Der Ton untereinander ist oft rau. Aber man ist solidarisch, auch, wenn mal eine fremde Leiche heimlich entsorgt werden muss. Baba Dunja schreibt Briefe an ihre Tochter in Deutschland und an die Enkelin, die sie noch nie gesehen hat. Einladungen nach Deutschland nimmt sie nie an. Sie hat ihr Zuhause in Tschernowo, das sie liebt und schätzt.

Die Geschichte wird liebevoll und anrührend erzählt, mit komischen und heiteren Überlegungen. Aus den Gedankengängen der Hauptfigur und den Dialogen spricht eine besondere Mitmenschlichkeit. Im Laden hätte ich wohl nicht zu dem Buch gegriffen – siehe Umschlaggestaltung. Umso mehr hat es mich bereichert, es doch in die Hand genommen und gelesen zu haben.

LESEPROBE

In der Nacht weckt mich wieder Marjas Hahn Konstantin. Für Marja ist er eine Art Ersatzmann. Sie hat ihn großgezogen  und schon als Küken gehätschelt und verwöhnt; jetzt ist er ausgewachsen und zu nichts zu gebrauchen….

…ich bin früh morgens auf den Beinen, um Marjas Hahn den Hals umzudrehen…

…Konstantin ist ein dummes Geschöpf, sein Lärm ist nutzlos. Außerdem habe ich schon lange keine Hühnersuppe mehr gegessen. Der Hahn sitzt auf dem Zaun und schielt mich an…

 Der Zaun steht schief und wackelt im Wind. Der dumme Vogel balanciert darauf wie ein betrunkener Seiltänzer. „Komm her, mein Schätzchen“, sage ich. „Komm, ich mach dich still.“ Ich strecke die Hand aus. Er schlägt mit den Flügeln und kreischt. Sein Kehllappen ist eher grau als rosa und zittert nervös. Ich versuche mich zu erinnern, wie alt er ist. Marja wird es mir nicht verzeihen, denke ich. Meine ausgestreckte Hand bleibt in der Luft hängen.

Und dann, noch bevor ich den Hahn berührt habe, fällt er vor meine Füße.

Alina Bronsky, „Baba Dunjas letzte Liebe“, Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2017

Zur Rezensentin

Angelika Schneeberger

lebt in Köln-Weiden und ist Mitglied des Literaturkreises / der Schreibwerkstatt „Frechener Schreibstoff“. Sie liest seit jeher gerne und betrachtet die Welt mit Interesse aus anderen Perspektiven. Am liebsten verbringt sie ihre Zeit im Frechener Kunstzentrum „Signalwerk“. Dort entstehen ihre Zeichnungen und Ölbilder, die schon auf zahlreichen Ausstellungen präsentiert wurden.

www.angelika-schneeberger.de/


Der Rezensent bei der Lektüre. Foto: Elisabeth Kann

Auf den Spuren der Freimaurer

Jürgen Streich empfiehlt ein Werk des Historikers John Dickie

Gleich vorweg: Der deutsche Titel des ansonsten gut übersetzten Buches „Die Freimaurer – Der mächstigste Geheimbund der Welt“ ist reißerisch und irreführend. Der Titel der englischen Originalausgabe, „The Craft – How the Freemasons Made the Modern World“ (auf deutsch etwa: „Das Handwerk – Wie die Freimaurer die moderne Welt gestalteten“) trifft den Inhalt des umfangreichen Werkes wesentlich besser. Denn ungeachtet dessen, dass die Titelwahl des S. Fischer Verlages

Wasser auf die derzeit heißlaufenden Mühlen der Querdenker-Bewegung ist, geht es dem renommierten englischen Historiker John Dickie mit seinem Buch darum, mit Mythen, Verschwörungstheorien und Legenden aufzuräumen und den Blick auf das freizuräumen, was die Freimaurer wirklich geleistet haben – oder eben auch nicht.

Dickie hat dafür aufwendig recherchiert. Nachdem er in einem Radiointerview die italienische Mafia als „Freimaurerei für Kriminelle“ bezeichnet hatte, wurde er von der englischen Großloge zu einem Gespräch eingeladen. Anschließend trat er eine Weltreise auf den Spuren der Freimaurerei an. Er führte zahlreiche Gespräche und forschte akribisch in Archiven.

Herausgekommen ist dabei ein gut lesbares Buch, das ich jedem an der Geschichte des Westens interessierten Menschen empfehlen möchte. Und all jenen, die sich aus seriöser Quelle über den Bund der Freimaurer, der bei näherem Hinsehen gar nicht so geheim, wenngleich schon ausgesprochen diskret agiert, informieren wollen. In Zeiten, in denen selbst die abstrusesten Behauptungen über soziale Medien und auf anderen Wegen Gehör und Anhänger finden, ist „Die Freimaurer“ ein angenehm unaufgeregtes und doch spannendes Buch.

Der Autor John Dickie zeichnet nach, wie sich der seinerzeit unorganisierte Berufstand der Steinmetze in sogenannten Bauhütten zusammenfand, aber aufgrund seiner Bestrebungen im Sinne der Aufklärung zwischen die Fronten weltlicher und kirchlicher Macht geriet und sich daher zunehmend abschottete. Wodurch wiederum die Mythen von Geheimbündelei und obskurer Machenschaften ebenso entstand, wie die These, die Freimaurer planten die Eroberung der Weltherrschaft. Symbolik und Rituale, die Dickie weitgehend als belanglos beschreibt, trugen dazu bei.

Der Historiker stellt vielmehr klar, dass es das viel gesuchte „Geheimnis der Freimaurerei“ nicht gibt. Er arbeitet stattdessen heraus, wie oftmals prominente Mitlieder der Logen – organisiert oder individuell – auf ihren Wegen Einfluss auf Politik das kulturelle Leben und andere gesellschaftliche Aspekte nahmen. Dabei war nicht alles davon ehrenvoll und manche gerieten beim Streben nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sowie Toleranz und Humanität auch auf Abwege. Doch Dickie zeigt auf, wie Freimaurer bei wesentlichen Entwicklungen die Finger mitunter maßgeblich im Spiel hatten, so unter anderem bei der Entstehung europäischer Nationalstaaten, der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.

Während die Stimmen, die behaupten, die Freimaurer seien immer noch für die übelsten Verschwörungen auf der Welt (mit)verantwortlich, wieder lauter werden, mehren sich auch die Kritiker, die ihnen vorwerfen, sie würden sich auf alten Lorbeeren ausruhen und nur noch stolz auf große Namen wie Johann Wolfgang von Goethe, Wolfgang Amadeus Mozart, George Washington, Winston Churchill, aber auch Edwin „Buzz“ Aldrin oder Charly Chaplin verweisen.

Doch es kommt Bewegung hinein. Längst gibt es Frauen- und gemischte Logen, kürzlich entstand in Deutschland die Initiative „Freemasons for Future“, die Beiträge zur Lösung drängender Probleme leisten will. Den Anspruch, die Zukunft der modernen Welt mitzugestalten, haben die Freimaurer offenbar nicht aufgegeben.

LESEPROBE

Historisch gesehen mag die Freimaurerei weltweit Symbole aus anderen Kulturen gestohlen haben, um sie in ihre Zeremonien einzubauen, aber die Logen haben immer wieder bewiesen, dass sie auch Wiegen des kulturellen Dialogs sind. (…)

Selbst diejenigen unter uns, die nicht im Traum daran denken würden, einer Loge beizutreten, können einiges lernen, wenn sie die Geschichte aus der Sicht der Freimaurer betrachten. Globalisierung und Internet zwingen uns, ein fundamentales menschliches Bedürfnis neu zu denken und neu zu definieren: Gemeinschaft. Dieser Tage stünde es in unserem Streben nach Wohlstand vielleicht gut zu Gesicht, nachzusinnen über die tragikomische Geschichte einer Gemeinschaft, entstanden in einer anderen Zeit, die einige unserer kostbarsten Ideale zu leben versuchte.

John Dickie, „Die Freimaurer – Der mächtigste Geheimbund der Welt“, übersetzt von Irmengard Gabler, S. Fischer, Frankfurt a. M., 2020, 544 S., 26 Euro