Fritz Pleitgen ist tot

Fritz Pleitgen ist tot

Fritz Pleitgen. Foto: WDR

Erinnerungen an einen großen Fernsehjournalisten, der auch in hohen Positionen immer Mensch geblieben ist.

Die Nachricht, dass Fritz Pleitgen gestorben ist, traf mich sehr. Irgendwie hatte er in meinem Leben – teils indirekt, später kurzzeitig umso direkter – immer eine Rolle gespielt. Ich habe ihn sowohl als TV-Nachrichtenkonsument als auch als zeitweiliger WDR-Mitarbeiter als ausgesprochen angenehmen Menschen und hochkompetenten Journalisten erlebt. Leider ist er am 15. September 2022 im Alter von 84 Jahren in Köln an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Die Erkrankung war zwei Jahre zuvor diagnostiziert worden und ab 2021 ging Pleitgen, der von März 2011 an zehn Jahre lang Präsident der Deutschen Krebshilfe e.V. (inzwischen Stiftung Deutsche Krebshilfe) war, offen damit um.

Da mein Vater kommunalpolitisch sehr engagiert war und er dadurch ein auch bundespolitisch und an internationalen Angelegenheiten sehr interessiertes Umfeld hatte, gehörte das Schauen von Fernsehnachrichten in meinem Elternhaus wie selbstverständlich dazu. Davon bekam ich, als ich noch ein kleines Kind war, einiges mit, wenngleich ich anfangs natürlich so gut wie nichts davon verstand. Doch schon da gab es Fritz Pleitgen im Programm, denn er war, nachdem er das Gymnasium noch vor dem Abitur verlassen hatte, zunächst Reporter für die Kleinstadt Bünde bei der „Freien Presse Bielefeld“ gewesen war und dann bei diesem Blatt ein zweijähriges Volontariat absolviert hatte, 1963 zum WDR nach Köln gewechselt. In dem Jahr hatten meine Eltern ihren ersten Schwarz-Weiß-Fernseher angeschafft. Nicht jeder besaß damals einen. Für mich aber gehörte Fritz Pleitgen, dessen Namen ich mir in dem Alter naturgemäß nicht merkte, von Beginn an zum Fernsehen dazu. Er arbeitete damals zunächst für die Redaktion der „Tagesschau“ und war als Sonderberichterstatter in Sachen Politik und Wissenschaft unterwegs.

Je älter ich wurde und Politik besser einzuordnen verstand, umso mehr interessierten mich inzwischen selbst die Themen, die auf der Agenda der Weltpolitik standen. Und so oft, dass es für mich längst schon zur Normalität gehörte, war Fritz Pleitgen der Überbringer der Nachrichten, zumeist von vor Ort. Ob als Korrespondent aus Moskau, Ost-Berlin oder Washington.

Als ich dann selbst den Weg in den Journalismus beschritt, hatte ich zu ihm unbewusst längst eine Art Urvertrauen entwickelt. Auch vor dem Hintergrund, dass ich mehr und mehr verinnerlichte, dass man als Journalist Informationen immer kritisch hinterfragen sollte, wirkten die Beiträge von Fritz Pleitgen trotz des manchmal aufwühlenden und besorgniserrgenden Inhalts immer seriös und beruhigend unaufgeregt. Inhalten, die er vermittelte, schien wasserdichte Recherche und Präsentation nach bestem Wissen und Gewissen immer irgendwie immanent zu sein.

Leider werden in dem zunehmend schnelllebigeren Geschäft Fernsehjournalisten wie Pleitgen immer weniger. Aber je mehr aus dem Nachwuchs sich an ihm ein Beispiel nehmen, desto besser kann es nur werden. Denn nie gab es stichhaltige Kritik an oder gar Widerlegungen seiner Berichterstattung. Obwohl Fritz Pleitgen, weil er die Ostpolitik von Willy Brandt befürwortete, in die SPD eingetreten war, blieb er stets der neutrale Beobachter, wenngleich er in Kommentaren – dort, wo es auch hingehört – sehr deutlich Stellung beziehen konnte. Ganz klar war er ein Journalist mit humanistischer Haltung, die er auch abseits von Kameras und Mikrofonen lebte.

Mitte der neunziger Jahre, also zu Zeiten des Redaktionsleiters Klaus Bednarz, arbeitete ich für das vom WDR produzierte ARD-Politmagazin „Monitor“. In dieser Zeit begegnete ich Fritz Pleitgen auch persönlich. Einmal schlug er ein paar Sekunden mehr für einen Film von mir  heraus und dann einen Parkplatz und einen Taxidienst. Für alles war ich ihm in den jeweiligen Situationen, die sich geballt inneralb von zwei Tagen ereigneten, ausgesprochen dankbar.

„Monitor“ wurde damals noch montagsabends gesendet, das Wochenende zuvor bestand aus Hauptkampftagen hinsichtlich der Fertigstellung der Einzelbeiträge, für die dann mitunter noch nicht alle „Drehs im Kasten“ waren. Mein Beitrag für die nächste Sendung war jedoch im Grunde schon vorher fertig. Es ging um eine von der damaligen NRW-Landesregierung selbst in Auftrag gegebene und dann unter Verschluss gehaltenen Studie über von Behörden geduldete, beförderderte oder gar selbst begangene Umweltdelikte. Ich war durch einen meiner Informanten an ein Exemplar der Studie gelangt. Und dann hatten wir auf einen aktuellen Anlass zum Senden des Filmes gewartet. Den lieferte uns im Herbst 1993 der Kunststoffbrand im westfälischen Lengede.

Ich hatte den Beitrag zuvor mit der Kollegin Ulrike Schweitzer bearbeitet, war nun aber für die Endversion allein zuständig. Von Klaus Bednarz hatte ich die Vorgabe, auf jeden Fall unter acht Minuten zu bleiben, weil die kommende Sendung aus den Nähten zu platzen drohte. Um das hinzubekommen hatte ich sogar eine Cutterin, die Rufbereitschaft hatte, am Wochenende herbeigebeten, damit wir meinen acht Minuten und 13 Sekunden langen Film irgendwie in den vorgegebenen Zeitrahmen bekamen. Dazu waren einige Umstellungen nötig und wir kamen letztlich auf sieben Minuten und 58 Sekunden. Das passte. Die Kürzung war ein ziemliches Stück Arbeit gewesen. Leider hatte ich mich dabei von einem O-Ton, einer Art Schlussowort, der Bochumer Professorin für öffentliches Recht, Gertrude Lübbe-Wolff, die später noch Bundesverfassungsrichterin (von 2002 bis 2014) wurde, verabschieden müssen, was ich als schmerzlich empfand.

Nun hatte „Monitor“ auch damals schon einenen gewissen Sonderstatus innerhalb des Senders und agierte ziemlich frei von WDR- und ARD-internen Hierarchien. Dennoch mussten die Beiträge der jeweils nächsten Sendungen von der Chefredaktion abgenommen werden, was zumeist eine Formalie war. Die ein oder andere Nachfrage bei den Autoren der Beiträge oder Redaktionsleiter Klaus Bednarz, und wenn die schlüssig beantwortet werden konnten, war das Procedere auch schon erledigt.

Als sich dann am Montagnachmittag alle Autoren, die gerade nicht unterwegs waren, und sonstwie Beteiligten in einem größeren Schneideraum versammelt hatten, kam der damalige WDR-Chefredakteur Fritz Pleitgen herein. Als er eine Tasse Kaffee bekommen hatte, fragte er zunächst, ob alle anderen auch mit diesem oder einem anderen Getränk versorgt seien. Und dann wurde mein Beitrag, da es meine Fersehpremiere war, als erster gezeigt. Sieben Minuten und 58 Sekunden lang. Allerdings hatten die Cutterin und ich bei der Kürzung nicht darauf geachtet, die verbliebene Überlänge am Schuss „abzuschneiden“. Bevor diese kam, sagte Klaus Bednarz: „Hier gehen wir raus.“ Pleitgen wollte den gecancelten O-Ton aber trotzdem sehen und hören. Danach drehte er sich zu Bednarz und dann zu mir um und sagte: „Das würde ich aber drinlassen. Das ist doch das perfekte Schlusswort zum Thema.“ Ich werde wohl nie vergessen, wie Bednarz mit dem Finger auf mich zeigte, mich sehr bestimmt anschaute und mir den Auftrag gab: „Streich, morgen um acht Uhr hätte ich gerne den Vorschlag für nur drei Sätze An- und einen für die Abmoderation.“ – Das war nicht viel, aber die 13 Sekunden mussten irgendwo „erwirtschaftet“ werden. Ich musste daraufhin, wenige Stunden vor der Sendung, die Cutterin bitten, mit mir unsere Wochenend-Kürzungsaktion wieder rückgängig zu machen. Trotzdem zog ich glücklich darüber von dannen und war Fritz Pleitgen sehr dankbar.

Abends nach der Sendung gab es das damals fast rituelle Beisammensein der Beteiligten in einem bistroähnlichen Restuarant in der Kölner „Schweizer Ladenstadt“ unweit des WDR. Man könnte nicht sagen, dass es dabei trocken zuging. Und ich gab natürlich auf meine Premiere einen aus. Erst in den frühen Morgenstunden lag ich zu Hause im Bett. Wenngleich es am Tag nach der Sendung recht ruhig in der Redaktion, deren Mitglieder sich zunächst von dem Endstress (und dem Beisammensein hinterher?) erholen mussten, zuging, klappte ich bei der „Monitor“-internen Nachbesprechung im Büro von Klaus Bednarz zusammen. Irgendwie waren Pulsfrequenz und Blutdruck aus dem Ruder gelaufen. Ich landete mithilfe rührender Fürsorge meiner Kolleginnen und Kollegen in der WDR-Betriebsarztpraxis. Inzwischen war auch meine Lebensgefährtin hinzugerufen worden, weil ja nicht klar war, wie es um mich stand. Naja, es war ein Kreislaufkollaps, der bald reguliert war.

Als das aber noch nicht klar war, standen meine „Monitor“-Kolleginnen und -Kollegen vor einem anderen Problem: Ich hatte damals keinen Zugangsschein zur WDR-Tiefgarage und hatte daher in der Nähe des sogenannten Filmhauses etwas gewagt – man könnte auch sagen: grenzwertig – geparkt. Über Nacht hätte ich dafür mit Sicherheit ein geharnischtes „Knöllchen“ bekommen. Die Kolleginnen und Kollegen waren in der Hinsicht gebrannte Kinder.

Nun war (oder ist er es etwa noch?) der WDR damals verwaltungstechnisch irgendwie auch eine Art Behörde, Bürokratie inbegriffen. Als freier Mitarbeiter für sein Auto Zugang zur WDR-Tiefgarage zu bekommen ging nur in absoluten Ausnahmesituationen. Und dafür waren natürlich Unterschriften nötig. Klaus Bednarz war bereits auf dem Weg ins ARD-Studio Moskau, also musste jemand von der „Etage höher“ die Genehmigung erteilen. Das war in dem Fall, da kein anderer aus der Chefredaktion greifbar war, Fritz Pleitgen. Und der erledigte das sehr unbürokratisch. Bevor das ein zu großer Verwaltungsakt würde, sollten die Kollegen meinen Wagen doch auf einen der für die Chefredaktion reservierten Plätze stellen, die seien ohnedies nicht alle belegt. (Den Wagen dort zwei Tage später wieder abzuholen wurde dann doch noch eine bürokratische Aktion mit entsprechendem Formularkram, aber dafür konnte Fritz Pleitgen ja nichts.)

Bei der Gelegenheit war die Frage aufgekommen, wie ich denn, wenn ich denn nicht ins Krankenhaus müsste – das musste ich nicht -, weder meine Lebensgefährtin noch ich nun ein eigenes Fahrzeug zur Verfügung hätten, ich aber für die öffentlichen Verkehrsmittel noch nicht fit genug sein dürfte, nach Hause käme. Wiederum sehr unbürokratisch segnete Pleitgen ab, dass meine Lebensgefährtin und ich von einem WDR-Chauffeur nach Hause gebracht wurden. Zwar legte ich mich dort dann schon noch etwas geplättet ins Bett, fühlte mich aber von den Kolleginnen und Kollegen bis hin zum Chefredakteur bestens umsorgt. Das tat sehr gut und vermittelte mir das Gefühl, dass es auch dort, wo es journalistisch ziemlich wichtig und mitunter entsprechend hektisch wird – die „Monitor“-Sendungen waren damals Ereignisse und erzielten heute unerreichbare Einschaltquoten – sehr menschlich zugehen kann. Gehörigen Anteil daran hatte Fritz Pleitgen. Auch ihm habe ich damals, wie allen anderen an der Aktion beteiligten Kolleginnen und Kollegen, ein Exemplar meines gerade erst erschienenen neuen Buches „Tödliches Erbe“ mit Widmung auf den Schreibtisch gelegt. Spätere Begegnungen mit ihm verliefen immer sehr angenehm, ohne jegliche Starallüren, die ich bei anderen vermeintlich wichtigen Journalisten speziell beim Fernsehen sehr wohl kennengelernt habe, seinerseits. Mein früherer positiver Eindruck von Fritz Pleitgen, den ich ohne ihn zu kennen, schon lange hatte, hatte sich in der Praxis in vollem Umfang bestätigt. Das betonte auch eine frühere Klassenkameradin von mir, die als Cutterin im ARD-Studio Washington arbeitete, als Fritz Pleitgen dort Korrespondent war, ihrerseits.

Viele Jahre moderierte Pleitgen, der als zwischenzeitlicher Hörfunkdirektor wesentliche Entwicklungen im WDR-Programm auf den Weg gebracht hatte, sonntagmittags den „Presseclub“. 1995 wurde er zum Intendanten gewählt und blieb dies, da er noch eine zweite Amtszeit erhielt, bis März 2007. Von 2001 bis 2002 war er zudem ARD-Vorsitzender, von 2006 bis 2008 auch Präsident der Europäischen Rundfunkunion.

Nach seiner Pensionierung war er ehrenamtlicher Geschäftsführer der Kulturhauptstadt Ruhr 2010. In diese Zeit fiel das schwere Unglück bei der Duisburger „Loveparade“, die Teil des Programms war. Fritz Pleitgen bekannte sich im Namen der Kulturhaupstadt-Verantwortlichen, die die „Loveparae“ unbedingt hatten haben wollen, zu einer moralischen Mitverantwortung.

Fritz Pleitgen erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter 2004 den Kulturpreis der deutschen Freimaurer und im Jahr 2012 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Sie alle aufzuzählen würde hier ebenso den Rahmen sprengen, wie die Liste seiner ehrenamtlichen Tätigkeiten. So war er seit der Gründung anno 1998 bis 2017 Vorsitzender und danach Ehrenvorsitzender des Lew Kopelew-Forums in Köln. Nachdem er 1991 über eine Kinderkrebsklinik im russischen Perm, die damals in einer Baracke untegebracht war, berichtet hatte, rief er die Initiative „Die Kinder von Perm“ ins Leben und wurde Vorsitzender des dahinterstehenden Vereins, der im Laufe von 20 Jahren 2,7 Millionen Euro, die Zuschauerinnen und Zuschauer des WDR gespendet hatten, zur Verbesserung der Zustände und des Ausbildungsstandes der Ärzte in Perm beitragen konnte. Pleitgen veröffentlichte sieben Bücher, darunter „Frieden oder Krieg – Russland und der Westen – Eine Annäherung“, das 2019 erschien.

Der Fernsehmann Pleitgen sagte über sich selbst, dass er immer Vollblutjournalist geblieben sei, aber seine darüber hinausgehenden Funktionen im Sinne der Sache auch gerne ausgeübt hätte. Er, der am 21. März 1938 in Duisburg-Meiderich geboren worden war, war Vater von vier Kindern, von denen drei im Medienbereich arbeiten. Als sein Sohn Frederik CNN-Korrespondent in Moskau wurde, gestand er, dass er ihn darum beneide.

Für mich wird Fritz Pleitgen immer ein herausragendes Beispiel dafür bleiben, dass professionelle Kompetenz und gelebte Menschlichkeit auch im Journalismus bestens miteinander vereinbar sind. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein.

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