Klagegesänge eines Fußballfans (Folge 2)

Klagegesänge eines Fußballfans (Folge 2)

Brave New
Soccer World


An dieser Stelle wird es bis zur Fußball-Weltmeisterschaft (So., 20. November bis So., 18. Dezember 2022) in Katar eine Artikelserie des emeritierten Politologieprofessors und Publizisten Dr. Klaus Hansen geben.


Typographie: Klaus Hansen

Von Klaus Hansen

Fußball war einmal ein Spiel, das von zwei Mannschaften gespielt wurde. Einen Schiedsrichter gab es noch nicht. Alle Konflikte auf dem Platz wurden von den Spielführern beider Teams geregelt. Heute ist Fußball ein Spiel, das von drei Mannschaften gespielt wird. Erstmals bei der WM 2018 in Russland reisten die Schiedsrichter im eigenen Mannschaftsbus an. Ein Hauptschiri auf dem Platz, zwei Assistenten an den Seitenlinien, ein „Vierter Offizieller“ draußen zwischen den Trainerbänken, zwei Wächter über die Straf- und Torräume, „Torrichter“ genannt (bei besonderen Spielen), und bis zu vier Video-Kontrolleure, macht summa summarum: zehn. Das Schiedsrichter-Team nähert sich der Elfzahl der Fußballmannschaften an. – Drei Mannschaften sind eine zu viel.

Niemand im Stadion, weder Spieler, Schiedsrichter noch Zuschauer haben gesehen, dass der Stürmer beim Torschuss im Abseits stand. Kein Gegenspieler, der die Hand gehoben und protestiert hätte. Aber die Videotechnik weist gegen allen Augenschein nach, dass zwei Zentimeter der Schuhspitze im verbotenen Bereich waren: Im neuen Fußball wird geahndet, was kein Mensch gesehen hat, und zwar im Namen einer „Gerechtigkeit“, die niemand der Beteiligten vor Ort eingefordert hat. – Der neue Fußball ist weltfremd. Obendrein zerstört er die Autorität des Spielleiters und macht ihn zum Hampelmann. Nicht mehr Menschen haben im Fußballspiel das letzte Wort, sondern Maschinen.

Die Anzahl nachträglich aberkannter Tore hat sich mit dem seit fünf Jahren praktizierten „Video-Beweis“ vervielfacht. Inzwischen halten sich sowohl Spieler als auch Zuschauer nach einem Tor mit ihrem Jubel zurück, weil sie ja nicht wissen können, ob der Treffer auch wirklich zählt. Wird das Tor nach fünfminütiger Unterbrechung und Videokontrolle gegeben, so gilt: Der „Flow“ ist zerstört, denn nachgereichte Freude ist halbe Freude. Der Videobeweis killt, was den Fußball so schön macht: Das Direkte, Rohe, mitten ins Herz Treffende. Damit stiftet er eine Frustration, die zu Aggressionen führt. – Die neue Gewalt im Stadion wird vom kommerzialisierten Fußball selbst produziert.

Bei vielen Wettkampfspielen diktiert das Geschehen die Zeit; bei Spielunterbrechungen wird auch die Uhr angehalten. Ein 60-minütiges Eishockeyspiel kann 120 Minuten dauern. Beim Fußball ist das anders; hier diktiert die Zeit das Geschehen. Nach 90 Minuten hat Schluss zu sein. In den letzten Jahren hat sich die Unsitte willkürlich verhängter „Nachspielzeiten“ eingebürgert, in denen oft spielentscheidende Tore fallen. – Die Nachspielzeit ist ein zur Normalität gewordener Regelverstoß. Heute wird sie mit dem selbstverschuldeten Zeitverzug durch Video-Kontrollen legitimiert. Das macht die Sache nicht besser.

Die Frage, ob der Ball zufällig an die Hand oder die Hand absichtlich an den Ball geht, ist eine der aufregendsten Fragen des Fußballs. Davon kann eine Elfmeterentscheidung abhängen. Die wiederum kann zu einem Tor führen, das viele Millionen wert ist, weil es die Qualifikation zur Champions League bedeutet. Ob absichtlich oder nicht, die Antwort kann nicht an Maschinen delegiert werden. Fehlbare Menschen müssen sie geben, nach wie vor. Kein Videobild hilft weiter.- „Elfmeter ist, wenn der Schiri pfeift“, hieß es über ein Jahrhundert in weiser Schlichtheit. Wenn der Referee ein „Unparteiischer“ im Sinne des Wortes ist, gibt es an der Gerechtigkeit seiner Entscheidung nichts auszusetzen. Und Gerechtigkeit sollte vor Fehlerfreiheit gehen, im Fußball wie im Leben! Aber leider hat man den Unparteiischen entmachtet und durch ein Gremium von Hampelmännern ersetzt.

Über Jahrzehnte war es gute Sitte und wohlverstandenes Eigeninteresse des Angreifers, das Foul des Gegenspielers zu vermeiden. Heute sucht er das Foul, und wenn er es nicht findet, stellt er es her. „Mit unserem ‚Schwalben-Trainer‘ trainiere ich simulierte Fouls“, sagt Stürmer Clemenz. „Wenn ich 20 Meter vorm gegnerischen Tor im Zweikampf zu Boden gehe, so, als wäre ich unfair gelegt worden, obwohl ich mich bewusst ‚eingefädelt‘ habe, ist das vielversprechend für die Mannschaft. Unsere Standard-Experten übernehmen dann alles Weitere“, das heißt: „Sie finalisieren meine Vorarbeit.“ Mit einem geldwerten Freistoß-Tor. – Der strategische und taktische Gebrauch von Regelverletzungen gehört zum neuen Fußball-Alltag. Die Täuschung wird zur Norm. Und ein willfähriger Journalismus kommentiert es wohlwollend („schlitzohrig“, „mit allen Wassern gewaschen“). Will Fußball Vorbild sein, muss er auch anständig sein!

Wir kennen alle noch große Fußballer, die sich rühmen, „von der Straße“ gekommen zu sein. Die jungen Profis heute kommen überwiegend aus der Zucht. Aus Fußballinternaten und Nachwuchsleistungszentren. Und so spielen und benehmen sie sich auch. Ein Mastschwein ist kein Wildschwein. Dank des vielen Geldes, das im Spiel ist, können manche U-20-Talente mit Recht behaupten, „fürs Leben ausgesorgt“ zu haben. Fehlende „Bolzplatz-Mentalität“ – im weitesten Sinne: „Bodenhaftung“ – wird laut beklagt.- Warum also nicht für jeden Fußball-Azubi im Leistungszentrum ein soziales Pflicht-Semester im sozialen Brennpunkt? „Was für’n Quatsch“, hört man die Antwort des Fußballmanagers im Hintergrund, „wir sind doch hier nicht bei Mutter Teresa!“

Spieler sollen „Persönlichkeiten“ sein. Das fordern alle. Wie soll ein talentierter 16-jähriger, der neben Vater und Mutter noch einen Clubtrainer, einen Athletiktrainer, einen Berater, einen Physiotherapeuten, einen Arzt, einen Rhetorik Coach, einen Pädagogen, einen Psychologen und einen Ausrüster hat, zur „Persönlichkeit“ werden? – Warum überhaupt eine „Persönlichkeit“ werden? Rundum gepampert lebt es sich doch viel bequemer. Aber für eine Mannschaft ist das Gift. Es müssen nicht „11 Freunde“ sein, die auf dem Platz stehen, aber 11 unmündige Marionetten werden es nicht weit bringen.

„Wer nicht alles gibt, gibt nichts“, gab einst Meistertrainer und Menschenschinder Helenio Herrera seinen Spielern von Inter Mailand mit auf den Weg. Das war in den 1960er Jahren  nur ein Bonmot. Heute ist es ein Gesetz. Mit oft kuriosen Auswüchsen beim Aufspüren und Ausbeuten letzter Reserven. Vom Spieler Cristiano Ronaldo heißt es, er schwöre auf totale Fitness durch Intervallschlaf. Ronaldo schläft nicht am Stück, sondern fünfmal 90 Minuten über 24 Stunden verteilt. Vom Spieler Robert Lewandowski heißt es, er esse rückwärts. Mit der Nachspeise beginnend, arbeite er sich zur Suppe vor. – Ist das der moderne Fußball? Einerseits videokontrolliert, andererseits voodoobasiert? Folgendes Beispiel stammt aus der Bundesliga: Bevor der Rechtsverteidiger mangels einsatzfähiger Alternativen auf die Linksverteidigerposition beordert wurde, musste er sich einem Spezialtraining bei Gehirndoktor L. unterziehen. Dabei lernte er, sein Gleichgewichtssystem für Zweikämpfe umzuschulen. In des Doktors Worten: „Das Zentralnervensystem des gelernten Rechtsverteidigers haben wir neuronal auf links gestellt.“ Nach erfolgreichem Abschluss der Seitenverkehrung wurde der Profi angehalten, unmittelbar vor Anpfiff eines jeden Spiels an einer Neun-Volt-Batterie zu lecken, um vom Anstoß weg nicht nur linksorientiert, sondern auch hellwach zu sein. – Wer nichts unversucht lässt, um immer noch ein Tausendstel besser zu werden und sich dabei auf „Spezialisten“ mit einem oft dubiosen Sonderwissen verlässt, macht sich zum Affen und verliert seine Souveränität. Die moralische Souveränität fehlt dem Fußball heute mehr als alles andere. Er ist ein verkommenes Geschäft.


Klaus Hansen. Foto: J. Streich

Über den Autor

Klaus Hansens Interessensgebiete reichen von A wie Anarchismus bis Z wie Zivilcourage. Ganz wichtig dazwischen: F wie Fußball. Diese Sportart beleuchtet er in seinem neuen Buch aus allen Richtungen. Dabei zeigen viele seiner Geschichten, Gedichte, Essays und Graphiken, wie sehr Fußball die Gesellschaft und den Zeitgeist abbildet – ob auf dem Platz, auf den Zuschauerrängen, außerhalb der Stadien und auch in den Medien. Bis hinein in die große Politik wirken die Vergaben und Inszenierungen internationaler Turniere.

Hansen, geboren 1948 in Pronsfeld in der Eifel, studierte Psychologie, Soziologie, Publizistik und Ethnologie an der Universität Münster und wurde 1977 zum Doktor phil. promoviert. Es folgten verschiedene Dozententätigkeiten, von 1992 bis 1996 war er Regierungsdirektor im Bundesministerium des Inneren. Anschließend übernahm er eine Professur für Politische Wissenschaften und Politische Bildung an der Hochschule Niederrhein Krefeld / Mönchengladbach.

Klaus Hansen wurde 2013 emeritiert und arbeitet seither ausschließlich als Publizist. 2017 erschien im Kölner Roland Reischl Verlag sein Buch „Soccer – Stories, Lyrics, Essays“ als eine von zahlreichen Veröffentlichungen.

Um die Fußballbegeisterung von Klaus Hansen zu beschreiben, eignet sich insbesondere eine Geschichte um den allerersten Spieltag der neuen Fußball-Bundesliga am Samstag, dem 24. August 1963: Damals brach der 15-jährige Klaus Hansen am Mittwoch zuvor mit dem Fahrrad in Duisburg auf, um drei Tage später rechtzeitig zum Anpfiff des Auswärtsspiels seinen geliebten MSV im Karlsruher Stadion zu sein. Überglücklich über dessen 4:1-Sieg auf des Gegners Platz – die Duisburger „Zebras“ landeten damit nach dem 1. FC Köln und Schalke 04 auf dem dritten Platz – kam er am darauffolgenden Dienstag wieder zu Hause an.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert