Ukrainische Luftabwehrrakete russischer Bauart trifft Dorf in Polen

Ukrainische Luftabwehrrakete russischer Bauart trifft Dorf in Polen

Das Dorf Przewodów im Osten des NATO-Mitgliedes Polen befindet sich links oben im Bild, die gelbe Linie rechts markiert die circa sechs Kilometer entfernte Grenze zur Ukraine. Foto: Screenshot / Google Earth

Ukrainekrieg: Geschoss außer Kontrolle tötet zwei Menschen auf NATO-Gebiet

Der Einschlag einer Rakete russischer Bauart im polnischen Przewodów nahe der Grenze zur Ukraine hat zwei Todesopfer gefordert. Das Geschoss war am 15. November 2022 um 15.40 Uhr Ortszeit auf dem Gelände eines landwirtschaftlichen Betriebes niedergegangen und explodiert. Zuvor hatte es an dem Tag intensiven russischen Raketenbeschuss von zivilen Zielen in der gesamten Ukraine gegeben. Einem Sprecher der ukrainischen Luftwaffe zufolge seien etwa 100 Raketen abgefeuert worden, die meisten hätten aber abgefangen werden können. Przewodów liegt etwa sechs Kilometer westlich der ukrainischen Grenze.

Nach diesem ersten Übergreifen des nunmehr seit neun Monaten andauernden Krieges auf das NATO-Territorium, das in den westlichen Hauptstädten zu einiger Anspannung führte, wurden Teile der polnischen Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hatte noch am Vorabend eine Krisensitzung des Nationalen Sicherheitsrates einberufen. Die NATO kündigte eine Dringlichkeitssitzung der Botschafter an.

Das Außenministerium in Warschau bestellte den russischen Botschafter ein und machte deutlich, dass man „sofort detaillierte Erklärungen“ erwarte. Aus dem russischen Verteidigungsministerium hieß es indessen, dass man für den ersten Raketeneinschlag auf dem Territorium eines am Krieg nicht unmittelbar beteiligten Landes nicht verantwortlich sei und es sich um eine Provokation mit dem Ziel handele, die Situation zu eskalieren. Die Wrackteile hätten nichts mit russischen Waffen zu tun. Später am Abend betonte auch US-Präsident Joe Biden, der noch beim G 20-Gipfel in Indonesien weilt, Flugbahndaten wiesen darauf hin, dass die Rakete nicht von Russland aus abgefeuert worden sei. Stunden darauf sprach er von Informationen, denen zufolge es sich offenbar um eine Luftabwehrrakete des auch vom ukrainischen Militär eingesetzten und in Russland produzierten Typ „S-300“ gehandelt habe.

Das räumte tags darauf auch der polnische Präsident Andrzej Duda ein. „Es war kein Angriff auf die Republik Polen“, sagte er und fügte an: „Wahrscheinlich war es ein Unfall.“ Die kurz zuvor noch angekündigte Aktivierung des Artikels 4 des NATO-Vertrages sei damit hinfällig geworden. Diese hatte die Regierung in Warschau kurz einige Stunden zuvor noch angekündigt. Artikel 4 des Bündnis-Vertrages besagt, dass das betroffene Land sofortige Konsultationen des Bündnisses fordern kann, wenn dessen „territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit gefährdet“ sei. Die in Artikel 5 geregelte Beistandspflicht, die einen Angriff auf ein Mitglied als solchen auf alle NATO-Partner definiert und die Mitglieder zur gemeinsamen Reaktion verpflichtet, ist davon unberührt.

Start einer in Russland gebauten Luftabwehrrakete des Typs S-300. Foto: defencetalk.com

Noch unter dem zunächst vorherrschenden Eindruck, dass es sich bei dem im polnischen Przewodów explodierten Geschoss um eine Rakete aus russischem Bestand gehandelt habe, hatte EU-Ratspräsident Charles Michel unterstrichen, dass die Europäische Union an der Seite seines Mitgliedes Polen stehe. UN-Generalsekretär António Guterres brachte seine Sorgen zum Ausdruck, indem er hervorhob, es sei „absolut essentiell, eine Ekalation des Krieges in der Ukraine zu verhindern“. Ungeachtet dessen hatte der lettische Ministerpräsident Artis Pabriks vorgeschlagen, dass die NATO die Luftverteidigung Polens und der Ukraine realisieren solle. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskiy sah Handlungsbedarf seitens der NATO. Sein Außenminister Dmytro Kuleba konkretisierte: „Heute bedeutet Schutz für den Himmel der Ukraine auch Schutz für den Himmel der NATO“. Verteidigungsminister Olexij Resnikow wurde noch deutlicher und forderte eine von dem westlichen Bündnis überwachte Flugverbotszone.

Diese wurde von den NATO-Regierungen bisher mit der Begründung abgelehnt, dass NATO-Streitkräfte in einer von dem Bündnis kontrollierten Flugverbotszone nötigenfalls russische Kampfflugzeuge abschießen und auch Luftabwehrstellungen auf russischem Gebiet attackieren müsste, was einen Kriegseintritt der NATO gegen Russland mit allen eventuellen Eskalationen bis hin zum Atomkrieg bedeute. Wolodymyr Selenskyj erneuerte zudem seine Forderung nach amerikanischen F-15- und F-16-Jagdbombern für die ukrainische Luftwaffe.

Beim G 20-Gipfel in Indonesien hatte US-Präsident Biden schon bald nach Bekanntwerden der Raketenexplosion in Ostpolen die Staatschefs der G 7- und der NATO-Länder zusammengeholt, weiterhin den japanischen Premierminister Kishido Fumio, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie den EU-Ratspräsidenten Charles Michel dazugebeten und mit ihnen eine deutliche Mahnung an die Adresse des Kreml formuliert, die Raketenangriffe auf zivile Ziele in der Ukraine unverzüglich einzustellen. Bundeskanzler Scholz fügte dem hinzu: „Wir stellen fest, dass Elektrizitätswerke zerstört werden, dass Umspannleitungen getroffen werden, dass Wasserversorgung zerstört wird. Das ist keine akzeptable Form der Kriegsführung in diesem ohnehin ungerechtfertigten Krieg.“ Bei dieser Zusammenkunft im Grand Hyatt fehlte lediglich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Aus Moskau hieß es unterdessen, dass Polen „eine weitere hysterische, zügellos russophobe Reaktion“ des Westens befeuert habe. Wäre früher klar gewesen, dass es sich um eine Luftabwehrrakete gehandelt habe, hätte, so Kremlsprecher Dmitri Peskow, jeder Experte gewusst, dass diese nicht von russischer Seite abgefeuert worden sein konnte. Die USA nahm Peskow von diesem Vorwurf allerdings aus. Die hätten sich zurückhaltenden und damit professioneller verhalten, als Polen und andere Länder. (Dieser Artikel wird fortlaufend aktualisiert.)

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Anmerkung von JS:

Zu dem tödlichen Zwischenfall an der polnischen Ostgrenze wäre es, auch wenn es sich offenkundig um eine ukrainische Luftabwehrrakete russischer Bauart gehandelt hat, nicht gekommen, wenn Russland die Ukraine und auch deren westliche Gebiete nicht massiv mit Raketen angegriffen hätte. Das wurde auch zum Abschluss des G 20-Gipfels in Indonesien betont. Insofern muss der internationale Druck auf Russland mit dem Ziel, dass Moskau die Kampfhandlungen und insbesondere die Angriffe auf zivile Ziele unverzüglich einstellt, aufrechterhalten werden.

Es zeigt aber auch, dass vorschnell erhobene Forderungen etwas nach einer durch die NATO kontrollierten und hochriskanten Flugverbotszone nach wie vor überzogen sind und die Lage zumindest verbal eskalieren. Und Worte schaffen bekanntlich Wahrheit. Zudem wäre die Einrichtung einer solchen Zone ein überaus gefährliches Spiel mit dem Feuer, und zwar auch mit dem nuklearen.

Ungeachtet dessen sollte die polnische Regierung ddie Einbestellung des russischen Botschafters aufrecht erhalten, denn schließlich ist Russland für den gesamten Krieg und aktuell für die massiven Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur verantwortlich. Das unterstrich auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg während der Pressekonferenz nach der Krisensitzung des Bündnisses.


Auszüge aus der Abschlusserklärung des G 20-Gipfels

Der nachfolgend in Auszügen und sinngemäß dokumentierten Abschlusserklärung der Gruppe der G 20* wurde, wie darin auch deutlich festgestellt wird, nicht von allen Mitgliedern unterschrieben. Doch selbst die Russland eher nahestehenden Staaten wie China, Indien und einige afrikanische Länder blockierten de Erklärung nicht, sogar Russland selbst nicht. Der Präsident Indonesiens, Joko Widodo, hatte, noch bevor der Raketeneinschlag auf polnischem Gebiet bekannt wurde, angemahnt: „Wenn der Krieg nicht endet, wird es schwierig sein für die Welt, voranzuschreiten.“

Aus der Erklärung:

„Die meisten Mitglieder haben den Krieg in der Ukraine auf das Schärfste verurteilt und betont, dass er unermessliches menschliches Leid verursacht und bestehende Schwachstellen in der Weltwirtschaft verschärft.“

Ohne, dass direkt auf den Ukrainekrieg eingegangen wird, heißt es klar und deutlich: „Der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen ist unzulässig.“

Um Konflikte friedlich beizulegen seien Bemühungen zur Bewältigung von Krisen sowie Diplomatie und Dialog unerlässlich, denn: „Die heutige Zeit darf nicht von Krieg geprägt sein.“

So wird in der Erklärung betont, dass durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine das weltweite Wachstum eingeschränkt, die Inflation angetrieben, die Versorgungsketten unterbrochen, die Energie- und Ernährungsunsicherheit verstärkt und die Risiken für die Finanzstabilität erhöht würden.

Es wurde nicht unterschlagen, dass es auch „andere Ansichten und unterschiedliche Einschätzungen der Situation und der Sanktionen“ gegeben habe. „Wir erkennen an, dass die G 20 nicht das Forum für die Lösung von Sicherheitsfragen ist“, heißt es weiter im Abschlusstext, aber ebenso erkenne das internationale Gremium an, „dass Sicherheitsfragen erhebliche Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben können.“

„Tief besorgt“ sei man hinsichtlich der globalen Ernährungskrise und setze sich daher für die Weiterführung des Abkommens über den Export ukrainischen Getreides ein.

Abgesehen vom Ukrainekrieg wollen die die G 20-Staaten, die ihrerseits für 80 Prozent der weltweiten Kohlendioxid-Emissionen verantwortlich sind, ihre Anstrengungen im Klimaschutz verstärken.

* Der Gruppe der G 20 gehören außer der Europäischen Union Deutschland, Argentinien, Australien, Brasilien, China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, die Türkei und die USA an.

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