„Der richtige Song von Pink Floyd“ – zur richtigen Zeit

„Der richtige Song von Pink Floyd“ – zur richtigen Zeit

Die Kultband veröffentlichte außergewöhnliches Stück zur Unterstützung der Ukraine

Jürgen Streich über ein besonderes Musikvideo einer besonderen Band

Als ich anno 2006 in Köln ein wunderbares Treffen mit dem Pink Floyd-Schlagzeuger Nick Mason hatte und es dabei um sein damals gerade erschienenes Buch „Inside Out“ über 40 Jahre Geschichte der Kultband ging, habe ich ihm mein seinerzeit aktuelles Buch „Vorbilder – Menschen und Projekte, die hoffen lassen“ über den Alternativen Nobelpreis überreicht, denn ich wusste, dass Nicks Sohn Deutsch studierte. Nick wollte von mir ein paar Takte über den Inhalt hören. Und natürlich hatte ich eine Widmung hineingeschrieben. Sinngemäß lautete sie so: Immer dann, wenn ich Trost brauchte, zum Beispiel bei Ärger in der Schule, Krach mit den Eltern oder Liebeskummer, hatte ich genauso, wie wenn es um Ermutigung oder Motivation ging, beispielsweise für Judo-Wettkämpfe, Greenpeace-Aktionen, später insbesondere für politische Aktivitäten oder wichtige Veröffentlichungen, den passenden Pink Floyd-Song zur Verfügung. Dafür wolle ich mich bedanken, „so thank you for the music.“ Ich wusste, dass es vielen anderen Menschen genauso ging wie mir. Nick Mason reagierte sichtlich gerührt, als er sich bedankte. Später, als ich sein Buch in die Kamera hielt, tat er das gleichzeitig mit meinem. In „Inside Out“ schrieb er als Widmung „Thanks for your book“.

Immer den passenden Pink Floyd-Song parat… – Ja, das war so. Doch wie sollte es in der Hinsicht weitergehen, seit David Gilmour und Nick Mason beim Erscheinen von „The Endless River“ im November 2014 betont hatten, dass dieses 15. Studioalbum das letzte der Band sein werde? Sie hatten dafür Material, das sie 1994 bei der Produktion von „The Division Bell“ nicht verwendet hatten, genutzt, also auch Passagen, die der im September 2008 verstorbene Keyboarder Rick Wright eingespielt hatte. Ohne ihn, ein Gründungsmitglied, sei Pink Floyd unvollständig, daher werde man von nun an nichts Neues mehr unter dem Bandnamen produzieren.

Widmung von Nick Mason für Jürgen Streich in seinem Buch „Inside Out“ über 40 Jahre Pink Floyd.

Pink Floyd für humanitären Zweck reaktiviert

So mussten Menschen wie ich, die sich glücklich schätzten, „immer den passenden Pink Floyd-Song parat“ zu haben, dafür künftig mit dem bis 2014 entstandenen Gesamtwerk der Band klarkommen, was sich bei mir und anderen auch als sehr gut praktikabel erwies. Natürlich hätte ich mich trotzdem riesig auf jede neue Veröffentlichung gefreut, zumal Pink Floyd für mein Empfinden mit ihrer Musik immer die Situation von Gesellschaft und Individuen in der jeweiligen Zeit interpretiert und durchaus auch kommentiert hatten. Zu mancher Entwicklung hätte ich mir das auch nach der Veröffentlichung von „The Endless River“ gewünscht. In der jüngeren Vergangenheit sogar ganz besonders, schien die Welt doch nahezu überall und in allen möglichen Zusammenhängen von einer für die Menschheit einigermaßen erträglichen Spur abzukommen. Der völkerrechtswidrige brutale Überfall der Ukraine durch Russland erschien mir eine logische Folge aus all den Wirren und politischen Verwerfungen zu sein und machte mich dennoch fassungslos.

Mit ihren Körpern versuchen ukrainische Bürger russische Panzer zu stoppen.

Mit vorgehaltener Gitarre für die Ukraine.

Und dann sitze ich am Nachmittag des Samstags, 9. April 2022, vor dem Laptop – der Krieg in der Ukraine, die ich als Journalist während Dreharbeiten für eine ARD-Sondersendung zum zehnten Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gut kennengelernt hatte, tobte da bereits seit über einem Monat – und stoße auf den Namen Pink Floyd in der für die Band seit dem Album „The Wall“ charakteristischen Kalligraphie, eingefärbt in den ukrainischen Farben Gelb und Blau. Der Schriftzug gehörte zum Artwork für den Song „Hey Hey Rise Up”, der auf sehr ungewöhnliche Weise zustandegekommen war und dessen Einnahmen humanitären Projekten in der Ukraine zugutekommen sollten.

David Gilmour und Nick Mason hatten kurzerhand entschieden, für das Projekt den Namen Pink Floyd zu reaktivieren. Gilmour dazu zur Zeitung „The Guardian“: „Wir wollen Geld für humanitäre Einrichtungen sammeln und etwas für die Moral tun. Wir wollen unsere Unterstützung für die Ukraine zeigen und auf diese Weise deutlich machen, dass der Großteil der Welt es für vollkommen falsch hält, dass eine Supermacht in das unabhängige, demokratische Land einmarschiert, zu dem die Ukraine geworden ist.“

Da war er, ein passender – neuer! – Pink Floyd-Song zur irritierenden Situation eines Krieges in Europa. So traurig der Anlass auch war, so empfand ich „Hey Hey Rise Up“ als eine ganz besondere Ermutigung, für alle, die an diesem verdammten Krieg zu verzweifeln drohten, und als ein tolles Zeichen der Unterstützung für die Menschen in der Ukraine. Der Musikkritiker Fraser Lewry von der angesehenen Zeitschrift „Classic Rock“ betonte, die Tatsache, dass der Song unter dem Namen Pink Floyd erschienen sei, mache sie für die Menschen in dem brutal angegriffenen Land emotional vielleicht wichtiger als die legendären Alben „Dark Side of the Moon“ oder „The Wall“.

Pink Floyd-Mitbegründer Roger Waters hat sich verrannt

Oben Pink Floyd-Mitgründer, langjähriger Songwriter, Sänger und Bassist Roger Waters, links das Cover der DVD-Box des Videos zu „The Final Cut“.

Vielleicht trifft das sogar besonders zu, weil das Pink Floyd-Gründungsmitglied, der langjährige Songwriter, Bassist und Sänger Roger Waters, sich in der Frage des Ukraine-Krieges völlig verrannt hat. So gab der politisch streitbare und zunehmend aneckende Musiker wenige Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine ausgerechnet dem Propagandasender „Russia Today“ ein Interview, in dem er allen Ernstes die Ansicht vertrat, dass die Furcht vor einem russischen Angriff auf das Nachbarland „Bullshit“ sei und „jeder mit einem IQ über der Raumtemperatur weiß, dass [eine Invasion] Unsinn ist.“ Als genau dieser Angriffskrieg aber kurz darauf begonnen hatte, bezeichnete er den Überfall zwar als „die Tat eines Gangsters“, sah und verurteilte aber „Propaganda zur Dämonisierung Russlands“. David Gilmour mochte das auf Nachfrage des „Guardian“ nicht kommentieren, sagte aber, dass er davon „enttäuscht“ sei.

Das geht mir auch so, ich will aber nicht unterschlagen, dass Roger Waters immer Position gegen Krieg und Ungerechtigkeit bezogen und sich auch dagegen engagiert hat. Nur hat er dabei zuletzt gelegentlich Ursachen und Wirkungen verdreht und in seinen dadurch falschen Betrachtungen zunehmend das Maß verloren. Zwar glaube ich Waters, den ich nach wie vor für einen herausragenden Musiker halte, dass er von humanitären Motiven getrieben ist, sich dabei aber aufgrund seiner Kritik am westlichen System insofern vergalloppiert hat, als dass er mitunter nicht mehr genau zwischen Tätern und Opfern unterscheidet. Und dass er Fehler nur schwer eingestehen und einen einmal eingeschlagenen Weg, auch wenn er fragwürdig oder erkennbar falsch ist, kaum verlassen kann, ist durch Überlieferungen aus seiner Spätphase bei Pink Floyd in der Szenerie hinreichend bekannt. Letztlich führte das zu seinem Ausstieg.

Musikhistoriker begründen das Beinahe-Zerbrechen der Band insbesondere mit dem 1983 erschienenen Album „The Final Cut – Requiem for the Post War Dream“, denn es war im Grunde ein Solowerk von Roger Waters, das von den anderen mit eingespielt worden und unter dem Label Pink Floyd erschienen war. Doch dabei wird leicht übersehen, welch klares und deutliches Statement gegen den idiotischen Falkland-Krieg zwischen Argentinien und Großbritannien um karge, einsame Inseln im Südatlantik, bei dem gleichwohl hunderte Soldaten auf beiden Seiten ums Leben kamen, war. Schon zuvor bei „The Wall“ zogen sich Kriegstraumata und deren (Nicht-)Verarbeitung durch sämtliche Stücke.

Doch schon bei seinem durchaus berechtigten Engagement gegen die israelische Palästina-Politik musste Roger Waters sich den Vorwurf, gelegentlich die Grenze zum Antisemitismus zu überschreiten, gefallen lassen. Er hatte sich wohl etwas zu arglos mit einer Organisation eingelassen, die dieser Kritik schon länger ausgesetzt war. Bei seinen Erklärungsversuchen verrannte er sich immer weiter in anti-amerikanistische Sichtweisen und übersah dabei, wer sonst alles ein Interesse an dem fortgesetzten Zündeln in der explosiven Region Nah- und Mittelost hat und dies auch in kriegerische Taten umsetzt. Andererseits vertritt Waters zu der im Raum stehenden Auslieferung des in Großbritannien inhaftierten Wikileaks-Gründers Julian Assange, der sich nichts anderes als aufklärenden Journalismus vorwerfen lassen muss, eine klare und nachvollziehbare Position.

Abgesehen von all dem hätte Waters unmittelbar nach seinem Ausstieg bei Pink Floyd circa 40 Jahre zuvor die mit von ihm selbst gegründete und zu riesigem Erfolg geführte Band in einem Streit um die Songrechte beinahe geopfert. Er konnte sich die Pychedelic Rock-Formation ohne ihn nicht mehr als original Pink Floyd vorstellen.

Später, als die anderen bewiesen hatten, dass sie auch ohne Roger Waters eine unverkennbare musikalische Marke unter dem großen Bandnamen – jetzt mit stärkerer „Handschrift“ von David Gilmour – bleiben und weiterhin erfolgreich Alben produzieren und Tourneen absolvieren konnten, hat Roger Waters alle seine ehemaligen Bandkollegen zu Auftritten bei Konzerten von ihm eingeladen. Zuletzt hatten alle wieder mit ihm auf der Bühne gestanden.

Links: „Rest-Pink Floyd“ nach Waters‘ Ausstieg und…

… unten wieder mit Keyboarder Rick Wright (rechts).

Der Initiator und Organisator der Live 8-Festivals, Bob Geldof von den Boomtown Rats, betonte, dass der Reunion-Auftritt von Pink Floyd mit Roger Waters am 2. Juli 2005 in London das Zustandekommen und den großen Erfolg des in alle Welt übertragenen Megaevents unter dem Motto „Make Poverty History“ erst ermöglicht hätte.

Gilmours Verbundenheit zur Ukraine Auslöser für den neuen Song

Doch dass Pink Floyd diese Krise Anfang / Mitte der achtziger Jahre überstanden hat, ist unzweifelhaft David Gilmour und Nick Mason, die den zuvor von Waters geschassten Keyboarder Rick Wright unverzüglich zurück in die Band holten, zu verdanken. Das nicht nur, weil sie anschließend noch drei weitere Studioalben produzierten, auf vielbeachtete und erfolgreiche Tourneen gingen und davon jeweils Livealben veröffentlichten. Welch wichtiges Instrument darüber hinaus Pink Floyd aufgrund seiner weltweiten, generationsübergreifenden und größtenteils politisierten Fangemeinde ist, zeigte sich jetzt, als es nach langer Zeit erstmals wieder zu einem Krieg in Europa kam und in diesem von einer Seite sogar mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht wurde.

David Gilmour betrachtet diesen ganz anders, als Roger Waters, teilweise auch aus einem sehr persönlichen Blickwinkel. „Es ist eine wirklich schwierige und frustrierende Sache, diesen außerordentlich verrückten, ungerechten Angriff einer Großmacht auf eine unabhängige, friedliche, demokratische Nation zu sehen“, befand er im Gespräch mit dem „Guardian“. „Die Frustration, das zu sehen und zu denken ‚Was zum Teufel kann ich tun?‘ ist irgendwie unerträglich“, sagte er der Tageszeitung. Eigentlich hasse er es, wenn Menschen ihre Argumentation mit Sätzen wie ‚Ich als Elternteil…‘ einleiteten, doch im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine sei das etwas anderes, auch und insbesondere bei ihm selbst aus ganz persönlichen Gründen. Schließlich habe er eine ukrainische Großfamilie. Gilmour weiter: „Meine Enkelkinder sind Halb-Ukrainer, meine Schwiegertochter Janina ist Ukrainerin.“ Deren Großmutter sei bis kurz zuvor in Charkiw gewesen, sehr alt, behindert, sitze im Rollstuhl und sei auf einen Pfleger angewiesen. Seiner Schwiegertochter und deren Familie sei es gerade noch rechtzeitig gelungen, sie bis zur polnischen Grenze und von dort aus nach Schweden zu bringen.

Andrij Klyvnyuk singt vor der St. Sophia-Kathedrale in Kiew…

… und im Zusammenschnitt in David Gilmours Scheune bei London.

Zustande gekommen ist die Idee, wie er mit Pink Floyd etwas für die Menschen in dem angegriffenen Land tun könne, auf außergewöhnlichen, ebenfalls musikalischen Wegen. David Gilmour hatte kurz nach Kriegsbeginn einen Instragram-Beitrag gesehen, in dem  der Frontman der ukrainischen Band BoomBox, der Sänger und Gitarrist Andrij Klyvnyuk, in Kampfmontur und mit umgehängtem Gewehr das 1914 entstandene ukrainische Freiheitslied „The Red Viburnum in the Meadow“ (ukrainisch.: Oy u luzi chervona kalyna“; dt.:„Der rote Schneeball auf der Wiese“) auf dem Platz vor der St. Sophia Kathedrale in Kiew singt.

Tatsächlich kannten sich Gilmour und Klyvnyuk, der sofort nach dem russischen Angriff eine US-Tournee abgebrochen hatte, um, wie seine Bandkollegen, sein Heimatland mit der Waffe gegen die Invasoren zu verteidigen, auf Umwegen.

2015 trat David Gilmour bei einem Benefizkonzert für die belarussische Freiheitsbewegung unter dem Motto „I’m with the Banned“ (engl.: „Ich stehe zu den Gebannten“) im Londoner KOKO auf. Im Belarus Free Theatre hatte es eine Razzia gegeben, bei der dessen Mitglieder verhaftet worden waren.

David Gilmour mit Mitgliedern von BoomBox und einem teils aus Mitgliedern seiner Familie bestehenden Background-Chor bei einem Benefiz-Konzert für belarussische Künstler 2015 im Londoner KOKO.

An dem Event waren unter anderem die Musikerinnen von Pussy Riot beteiligt, auch Beiträge von BoomBox, deren Mitglieder in der Ukraine Superstars sind, waren vorgesehen. Doch bei Andrij Klyvnyuk gab es Komplikationen mit dem Visum. Da die Ukrainer ohne ihren Frontmann ihre Stücke nicht spielen konnten, lud David Gilmour die verbliebenen BoomBox-Musiker ein, ihn zu begleiten. Den berühmten Pink Floyd-Song „Wish You Were Here“ widmete die Kombination treffenderweise dem abwesenden Andrij Klyvnyuk. Der gemeinsame Auftritt, bei dessen letztem Stück „Rattle that Lock“ auch Familienmitglieder Gilmours, darunter seine Frau Polly Samson, zum Background-Chor gehörten, begeisterte das Publikum.

Vor diesem Hintergrund reifte bei David Gilmour der Plan, das Klyvnyuk-Video aus Kiew musikalisch und optisch in einen mit Pink Floyd aufgenommenen Film zu integrieren und den Erlös aus dem Film und der dazugehörigen Single für humanitäre Zwecke in der Ukraine zur Verfügung zu stellen. David Gilmour berichtete dem „Guardian“ vom weiteren Fortgang des Projektes: „Ich rief Nick an und sagte: ‚Hör zu, ich möchte diese Sache für die Ukraine machen. Ich wäre sehr glücklich, wenn du darauf spielen würdest und ich wäre auch sehr glücklich, wenn du zustimmen würdest, dass wir es als Pink Floyd herausbringen.‘ Und damit war er absolut einverstanden.“ Und zur besonderen Bedeutung des großen Bandnamens in diesem Zusammenhang: „Es ist Pink Floyd, wenn Nick und ich dabei sind, und das ist das größte Werbemittel; das ist die Plattform, an der ich mein ganzes Erwachsenenleben lang gearbeitet habe, seit ich 21 war. Bei vielen anderen Dingen würde ich das nicht tun, aber es ist so lebenswichtig, dass die Menschen verstehen, was dort vor sich geht, und alles in ihrer Macht stehende tun, um diese Situation zu ändern. Und auch der Gedanke, dass meine und Pink Floyds Unterstützung der Ukrainer dazu beitragen könnte, die Moral in diesen Gebieten zu stärken: Sie müssen wissen, dass die ganze Welt sie unterstützt.“

David Gilmour konzentriert sich auf seinen Einsatz bei „Hey Hey Rise Up“.

Drummer Nick Mason gibt den Takt vor.

Der Schwiegersohn des 2008 verstorbenen Keyboarders Rick Wright, Guy Pratt, ist seit Roger Waters‘ Ausstieg Bassist von Pink Floyd.

Er und seine Mitmusiker hätten wie viele andere auch „Wut und Enttäuschung über diesen abscheulichen Akt der Invasion eines unabhängigen, friedlichen, demokratischen Landes und die Ermordung seiner Bevölkerung durch eine der größten Weltmächte“ gespürt, so Gilmour weiter. Er habe es als „enorm schwierig und frustrierend“ empfunden und es habe ihn „einfach nur wütend“ gemacht, „dass eine einzelne Person die Macht haben kann, in ein anderes unabhängiges demokratisches Land einzumarschieren und die dortige Bevölkerung zu töten. Es ist in einem Ausmaß obszön, das jenseits meiner Vorstellungskraft liegt.“

Mit Musik gegen den Kriegs-Irrsinn

Doch nun gab es einen Plan, ein Projekt, mit dem die Pink Floyd-Musiker etwas gegen dieses Unfassbare tun konnten. So galt es als nächstes, Andriy Klyvnyuk zu kontaktieren. Gilmour versuchte es auf allen Kanälen, die die Kontaktdaten, die er von ihm hatte, hergaben. Doch letztlich funktionierte es per E-Mail. Gleichwohl wollte Klyvnyuk über FaceTime sprechen. David Gilmour glaubt, dass er sicher sein wollte, dass der Anrufer auch wirklich David Gilmour ist.

Das nächste Mal sahen der britische Gitarrist und der ukrainische Sänger sich auf diesem Wege, als Klyvnyuk im Krankenhaus lag. Er war durch eine Mörsergranate verletzt worden. Gilmour: „Er zeigte mir dieses winzige Stück Schrapnell, das sich in seine Wange gebohrt hatte. Er hatte es in einer Plastiktüte aufbewahrt. Aber es hätte, wenn solche Dinger hochgehen, genauso gut ein Stück von über einem Zentimeter Durchmesser sein können, das ihm den Kopf abgetrennt hätte.“

Besonders unter die Haut ging dem Pink Floyd-Gitarristen, was sein Kollege ihm darüber hinaus berichtete. Gilmour dazu zum „Guardian“: „Er sagte, der höllischste Tag, den man sich vorstellen kann, sei gewesen, als er die Leichen von Ukrainern und ukrainischen Kindern barg und bei den Aufräumarbeiten half.“ Unsere Probleme würden „so erbärmlich und winzig im Vergleich zu dem, was er tut.“

So betonte Guy Pratt, der seit dem Ausstieg von Roger Waters vor nahezu 40 Jahren Bassist von Pink Floyd und bei anderen Aufnahmen und Konzerten von David Gilmour ist, in einem in den „Guardian“-Beitrag eingebundenen Videointerview auch treffend über den Song: „Teilweise ist es ein Schrei des Schmerzes und ein Aufheulen des Zusammenhalts. Weil, das ist offensichtlich, wir wünschten, die Aufnahme nie gemacht zu haben.“

Gilmours Scheune als Studio

Entstanden ist diese am 30. März 2022 in der Scheune des Anwesens von David Gilmour. Dort hatte er während des Corona-Lockdowns gemeinsam mit Familienmitgliedern unter dem Titel „Bird on the Wire“ Hausmusik aufgezeichnet und ins Netz gestellt. Und bereits 2007 hatten dort die „Barn Jam Sessions“ mit Richard Wright stattgefunden. Da der leider nicht mehr lebt, hatte Pink Floyd nun den indischstämmigen britischen Musiker, Komponisten, DJ, Produzenten und Remixer Nitin Sawhney, der mit Guy Pratt befreundet ist, als Keyboarder engagiert.

Der britisch-indische Musiker Nitin Sawhney unterstütze Pink Floyd an den Tasten.

Das Set hatte Gilmours Schwiegertochter, die ukrainische Fotokünstlerin Janina Pedan innerhalb eines Tages aufgebaut.

Während der Aufnahme-Session vertont die Band das von Andrij Khlyvnyuk a-capella gesungene und bereits drei Tage nach dem russischen Überfall auf Instagram veröffentlichte Lied „The red Viburnum in the Meadow“ live in familiärem Kreis. Der Ukrainer Stepan Tscharnezkyj hatte das Freiheitslied 1914 zur Ermutigung der ukrainischen Armee und Bevölkerung getextet. Das Einverständnis von Andrij Khlyvnyuk zur Verwendung seines Videos hatte David Gilmour zuvor telefonisch eingeholt.

Als Intro wurde eine Version von „The red Viburnum in the Meadow“ des ukrainischen Chores „Werowka“ verwendet. Natürlich gibt es im Mittelteil auch ein ausführliches Gitarrensolo, für das David Gilmour unterschiedliche Klangfarben aus seiner alten Fender „Esquire“ herausholt. Das 1955 gebaute Instrument, das er Mitte der siebziger Jahre von dem Gitarristen und Gitarrentechniker Seymour Duncan erhalten hatte, wird wegen der unübersehbaren Gebrauchsspuren liebevoll „The Workmate“ (dt.: „Der Arbeitskollege“) genannt.

Nick Masons Basstrommel war während der Aufnahme zu „Hey Hey Rise up“ mit einem Gemälde der ukrainischen Künstlerin Marija Prymatschenko, deren Werk beim russischen Angriff teilweise zerstört worden war, verziert.

David Gilmour spielt seine Fender „Esquire“, genannt „Workmate “ (dt. Arbeitskollege“), aus dem Jahr 1955.

Ukrainische Kunst auf Nick Masons Basstrommel.

Der Clip wurde von dem britischen Filmregisseur, Cutter und Drebuchautor Mat Whitecross, der mit „The Road to Guantánamo“ bekanntgeworden und dafür gemeinsam mit Michael Winterbottom bei der Berlinale 2006 mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet worden war, aufgenommen und produziert. Whitecross hatte bereits für Coldplay und die Rolling Stones Musikvideos realisiert.

Der dreijährige Leon singt „Oy u luzi chervosna kalyna“.

In das Video für Pink Floyds „Hey Hey Rise Up” arbeitete Whitecross Bilder von Kriegsszenen, Verabschiedungen ukrainischer Soldaten, die in den Krieg ziehen, von ihren Frauen und Kindern, Evakuierungen und Zerstörungen ein. Zum Schluss sind auch Kinder, die „The Red Viburnum in the Meadow“ singen, zu sehen, darunter auch der dreijährige Leon, der mit seinem Vater Olexander und seinem Bruder Elwin bei Kriegsbeginn aus Irpin in die Westukarine geflohen war. Leon hatte Andrij Khlyvnyuks Version gehört und ahmte diese so mitreißend nach, dass das davon von seinem Vater aufgenommende Video nach einer Veröffentlichung in dem Nachrichtenportal „Obosrewatel“ viral ging.

Nach der Produktion in der Scheune schickte David Gilmour das fertige Material an Andrij Khlyvnyuk, der ihm antwortete: „Danke, es ist fabelhaft. Eines Tages werden wir es zusammen spielen und danach ein gutes Bier trinken, auf mich.“ Der Pink Floyd-Gitarrist sagte dem „Guardian“, er sei über diese Reaktion erfreut und erleichtert“ gewesen und habe seinem ukrainischen Freund sowohl das Zusammenspiel als auch das gemeinsame Bier zugesagt.

Veröffentlichung auf allen relevanten Kanälen

„Hey Hey Rise Up” wurde am 8.  April 2022 auf allen relevanten digitalen Kanälen veröffentlicht. Das Video des Songs wurde seither viele Millionen mal aufgerufen und erreichte in 29 Ländern Platz 1 der Charts. Da das letzte Studioalbum von Pink Floyd, „The Endless River“, aus 1994 für „The Division Bell“ eingespieltem, aber damals nicht verwendetem Material bestand, war „Hey Hey Rise up“ die erste Pink Floyd-Neuproduktion seit 28 Jahren.

Am 15. Juli 2022 folgte nach der digitalen auch die physikalische Veröffentlichung des Songs auf CD- und 7‘‘-Single.

Als B-Seite beziehungsweise zweites Stück wurde eine leicht überarbeitete Version von „A Great Day for Freedom“, das erstmals auf „The Division Bell“ erschienen war, hinzugenommen. Als zweite Gesangsstimme ist darauf David Gilmours Tochter Romany zu hören.

Der Pink Floyd-Gitarrist, Sänger und Songwriter kommentierte „A Great Day for Freedom“ 1994 so: „Als die Berliner Mauer fiel, gab es einen wunderbaren Moment von Optimismus – die Befreiung Osteuropas von der undemokratischen Seite des sozialistischen Systems. Doch was sie jetzt haben, scheint nicht viel besser zu sein. Auch hier stehe ich dem Ganzen ziemlich pessimistisch gegenüber. Ich hoffe auf das Beste und lebe in Hoffnung, allgemein tendiere ich jedoch zu der Sichtweise, dass die Geschichte wesentlich langsamer voranschreitet, als wir gemeinhin annehmen. Mein Gefühl sagt mir, dass echte Veränderung sehr, sehr lange braucht.“ Den Weg des Rückschritts, den Russland schon bald nach der Gorbatschow-Ära mit Glasnost und Perestroika eingeschlagen hat, konnte er da noch nicht absehen. Gleichwohl war Gilmours Skepsis berechtigt.

Pink Floyd verwendete für den Namensschriftzug auf dem Cover von „Hey Hey Rise Up“ die von Gerald Scarfe 1979 für „The Wall“ entworfene Kalligraphie und färbte sie lediglich in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb ein. Die Artwork sowohl für die digitale Veröffentlichung als auch das CD- und Single-Cover übertrug die Band dem kubanischen Künstler Yosan Leon, der dafür das Motiv der verfremdeten Sonnenblume, der inoffiziellen Nationalblume der Ukraine, kreierte.

Dass Leon eine Pupille, die schon das Cover des 1995 erschienenen Livealbums „Pulse“ zierte, in die Blüte der Sonnenblume eingearbeitet hat, lässt sich durchaus im Sinne des all-sehenden Auges interpretieren. Treffend wäre im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg die Bedeutung des Auges in der Freimaurerei. Dort symbolisiert es die sich immer offenbarende Wahrheit, fordert zu weisem Handeln auf und appelliert an das Gewissen. Im Sinne des Ursache-Wirkungs-Prinzips stellt es das Gute, das das Böse stellt, um es zu besiegen, dar. Womöglich ein Hinweis an die Kreml-Führung, der die Kenntnis der Bedeutung von Wahrheit, Weisheit und Gewissen völlig abhanden gekommen zu sein scheint.

Unter die Haut gehende Szenen im Video

Angesichts dieser Szene muss man natürlich schlucken und tief durchatmen. Denn selbstverständlich hat sich nicht jeder russische Soldat freiwillig zu diesem Krieg gemeldet, wobei die zwangsweise Eingezogenen aufgrund der zu kurzen und schlechten Ausbildung sogar diejenigen sind, die am stärksten von Tod und Verletzung bedroht sind. Dennoch kämpfen sie in diesem völkerrechtswidrigen Krieg auf Seiten der Angreifer, die die ukrainische Bevölkerung terrorisieren, teils verschleppen und bereits üble Kriegsverbrechen begangen haben. Für die Ukrainer geht es daher um nicht weniger als ihre Existenz, die Heimat. In der sollen natürlich auch wieder Sonnenblumen blühen – in einem gesicherten Frieden. Möglichst auf gesundem, entmientem und nicht verstrahltem Boden.

Und nicht nur Sonnenblumen. Sondern auch der Rote Schneeball, das Red Viburnum. Dem Text von „The Red Viburnum in the Meadow“ von 2014 zufolge und jetzt von Andrij Klyvnyuk und Pink Floyd auf den russischen Angriff auf die Ukraine übertragen hat sich das rote Viburnum niedergebeugt, weil die glorreiche Ukraine so bedrängt wurde. Aber die Ukrainer würden das Viburnum wieder aufrichten. „Und wir, unsere glorreiche Ukraine“, so wörtlich im Text, „werden, hey, hey, aufstehen und jubeln!“ – Diese Zeile lieferte die Vorlage zum Titel des Pink Floyd-Songs.

Red Viburnum – Roter Schneeball.

Die Ukraine hatte bereits „ihren“ Atomschlag

Womit ich wieder beim „richtigen Pink Floyd-Song“ für jede Situation wäre. Als ich im Februar 1996 für eine ARD-Sondersendung über die damals zehn Jahre zurückliegende Reaktorkatastrophe in der Ukraine war, besuchte ich mit meinem Team auch zwei der „verbotenen“ und offiziell entvölkerten Zonen. Dort strahlte es, wo ich den Geigerzähler auch hinhielt, mindestens so, dass sich dort niemand mehr dauerhaft aufhalten sollte. Mancherorts auch so stark, dass wir sehen mussten, zügig wegzukommen. Doch insbesondere in den 1986 hektisch evakuierten und oft sehr idyllischen Dörfern stießen wir auf vereinzelte Menschen, die illegal in die kontaminierten und damit ungesunden Landstriche zurückgekommen waren. In der Großgemeinde Narodytschi am nordwestlichen Rand der Sperrzone von Tschernobyl war es sogar die Hälfte der einstigen Einwohner. Sie mochten ihre Heimat einfach nicht dauerhaft missen und nahmen das Gesundheitsrisiko bewusst in Kauf.

Die radioaktiv verstrahlte Umgebung des Betonsarkophages, der 1996 den explodierten Reaktor umhüllte. Inzwischen ist dieser selbst in einer moderneren Konstruktion eingeschlossen.

Eine treffende Bildmontage der ARD: Der Geist des russischen Präsidenten Wladimir Putin schwebt über der Moskauer Machtzentrale, dem Kreml.

Als wir uns in einem Plattenbau in der 1986 hastig verlassenen Geisterstadt Pripjat, die einst 50.000 Einwohner hatte und während unseres Besuches keinen mehr, sagte, Valentina, die nach dem Atomunfall von hier geflohen war, in ihrer verlassenen Wohnung weinend: „Wir waren hier glücklich.“ Ich fühlte mich mit dem direktem Blick auf den Reaktor-Sarkophag wie in einer Szenerie unmittelbar nach einem Nuklearangriff und kommunizierte das anschließend auch so.Ich betonte seitdem, dass die Ukraine ihren Atomkrieg gewissermaßen schon gehabt habe und war froh, dass Michail Gorbatschows Perestroika noch derart nachwirkte, dass atomare Militärschläge höchst unwahrscheinlich geworden waren.

Aber jetzt sitzt Wladimir Putin, der offen damit droht und Kernkraftwerke beschießen lässt, im Kreml an den Hebeln der Macht. Es macht mich fassungslos und ich empfinde es als ekelhaft, wie einzelne Charakterschwächlinge aufgrund ihrer Machtgier die ganze Welt in den Krisenmodus versetzen können.

In dieser Stimmung stieß ich im Internet auf das Video zum Song „Hey Hey Rise up“. Ich nahm spontan meinen Laptop vom Schreibtisch, rannte geradezu ins Wohnzimmer zu meiner Lebensgefährtin und sagte, noch bevor ich das Video erneut gestartet hatte: „Ich wusste, dass von denen etwas dazu kommen wird.“ Ich hatte es natürlich nicht gewusst, insgeheim aber gehofft. Nun existierte es wirklich. Dass meine persönlichen Musikfavoriten klar und deutlich und zudem künstlerisch wertvoll Stellung gegen dieses abscheuliche und tödliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die Menschheit bezogen, bewies mir, dass sie sich ihrer Verantwortung als reichweitenstarke und weltbekannte Musiker nach wie vor bewusst sind und ihre(n) großen Namen entsprechend einsetzen. So, wie David Gilmour es im sozialen und ökologischen Bereich schon lange tut. Ich empfand „Hey Hey Rise Up“ als kreativen und ermutigenden Hoffnungsschimmer in einer irritierenden und politisch unsicheren Zeit.

Pink Floyd eben. Für jede Situation den richtigen Song…

Pink Floyd während der Live-Audio- und Videoaufnahme von „Hey Hey Rise Up“ in der Scheune von David Gilmour: (Von links) Gast-Keyboarder Nitin Sawhney, Gitarrist David Gilmour, auf der Leinwand aus Kiew eingeblendet Gast-Sänger Andrij Klyvnyuk, im Schatten Bassist Guy Pratt und Schlagzeuger Nick Mason.


Fotonachweis:

Bei allen Fotos, die hier nicht gesondert aufgeführt sind, handelt es sich um von mir aufgenommene Screenshots aus dem offiziellen Pink Floyd-Video „Hey Hey Rise Up“.

Das Repro der Buchwidmung von Nick Mason habe ich selbst erstellt – Foto von Roger Waters: Screenshot eines in YouTube veröffentlichten Statements von ihm beim „Russel Tribunal on Palestine Epilogue“ – Das Foto von „Rest-Pink Floyd“ (David Gilmour und Nick Mason) und das Bild gemeinsam mit Rick Wright: LP-Cover des Albums „A Momentary Lapse of Reason“ – Konzertfoto des Auftritts im Londoner KOKO 2015: Screenshot aus in YouTube veröffentlichtem Mitschnitt – Bild vom singenden kleinen Leon: Screenshot aus dem von seinem Vater Olexander Busha aufgenommenen und verbreiteten Video – Foto der Ukrainerin, die russische Soldaten „Okkupanten“ nennt und ihnen Sonnenblumenkerne übergeben will: Screenshot aus dem von der Szene aufgenommenen und u. a. vom „Guardian“ verbreiteten Video – Der Rote Schneeball: Pixabay – Bild der Umgebung des Reaktorsarkophages von Tschernobyl: Maria Ostler – Montage Putin schwebt über dem Kreml: Screenshot aus ARD-Talkshow „Maischberger – Die Woche“

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