Klagegesänge eines Fußballfans (Folge 1)

Klagegesänge eines Fußballfans (Folge 1)

Fußball – vom Botton-up- zum Top-down-Spiel


An dieser Stelle wird es bis zur Fußball-Weltmeisterschaft (So., 20. November bis So., 18. Dezember 2022) in Katar eine Artikelserie des emeritierten Politologieprofessors und Publizisten Dr. Klaus Hansen geben.


Graphik: Klaus Hansen

Von Klaus Hansen

Das Fußballspiel, wie wir es heute kennen, ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts von unten gekommen, aber nicht aus der Arbeiterklasse, sondern aus den Eliteinternaten des Vereinigten Königreichs. Dann wurde es vom noch jungen Industrieproletariat adoptiert, weil es ein einfaches und billiges Spiel ist, das weder besondere körperliche, geistige noch materielle Voraussetzungen erfordert. Und der schwer erkämpfte arbeitsfreie Sonntag wurde zum Spieltag.

Ein Botton-up-Spiel, das der Fußball ursprünglich ist, wird nunmehr, 150 Jahre nach seiner Einführung, zum Top-down-Spiel, beherrscht von der audiovisuellen Unterhaltungsindustrie, bei der die Übertragung von Fußballspielen ein sicherer Quotenbringer und also Dukatenscheißer ist. Der jüngste Höhepunkt dieser Top-down-Tendenz ist die Ansiedlung einer Fußball-Weltmeisterschaft in einem Zwergstaat ohne jegliche Fußballtradition: Katar.

Die erste Fußball-Weltmeisterschaft wurde 1930 deshalb an Uruguay vergeben, weil die „Uros“ die beste Mannschaft der Welt waren, mit zwei Olympiasiegen 1924 und 1928. Dass sie auch den spektakulärsten Fußball spielten, Könner und Künstler zugleich, wird an der hingebungsvollen Pflege des „bicycle kick“ deutlich, des Fallrückziehers; den direkt verwandelten Eckball sollen sie sogar erfunden haben.

Von Anfang an war die Mitte des Jahres die übliche Austragungszeit des Turniers. Das alles gilt jetzt nicht mehr, „Zeitenwende“ auch hier. Dass in Katar weder Fußball-Könner noch -Künstler anzutreffen sind und nun in der Vorweihnachtszeit gespielt wird: geschenkt. Dass in Katar keine Fans vorkommen, weil es kaum Einwohner hat: geschenkt. Dass alle Fans Importe sein werden, die mit 10.000 Dollar für Ticket-, Anreise- und Aufenthaltskosten noch gut bedient sind: geschenkt. Dass man aber auch an ein Lock-Angebot für Fans gedacht hat: geschenkt. (Es besteht in der Erlaubnis zum Ausschank von Alkohol in „Fan-Zonen“. Was für ein Unmenschenbild vom Fan!) Dass in acht Kühlschränken gespielt wird, denn nichts anderes sind die vollklimatisierten Stadien dort: geschenkt. Dass bei den Bauarbeiten sämtliche Humanstandards verletzt wurden und Tausende von Arbeitern zu Tode gekommen sind: geschenkt.

Das sind die Gestehungskosten des modernen Profi(t)- und Top-down-Fußballs. Er macht den korrupten Weltfußballverband reich und wertet eine islamistische und absolute Monarchie auf. Wer möchte da noch Fan sein? Fan sein ist eine Herzensangelegenheit, und die Herzen der Fans sind keine Mördergruben.


Über den Autor

Klaus Hansens Interessensgebiete reichen von A wie Anarchismus bis Z wie Zivilcourage. Ganz wichtig dazwischen: F wie Fußball. Diese Sportart beleuchtet er in seinem neuen Buch aus allen Richtungen. Dabei zeigen viele seiner Geschichten, Gedichte, Essays und Graphiken, wie sehr Fußball die Gesellschaft und den Zeitgeist abbildet – ob auf dem Platz, auf den Zuschauerrängen, außerhalb der Stadien und auch in den Medien. Bis hinein in die große Politik wirken die Vergaben und Inszenierungen internationaler Turniere.

Hansen, geboren 1948 in Pronsfeld in der Eifel, studierte Psychologie, Soziologie, Publizistik und Ethnologie an der Universität Münster und wurde 1977 zum Doktor phil. promoviert. Es folgten verschiedene Dozententätigkeiten, von 1992 bis 1996 war er Regierungsdirektor im Bundesministerium des Inneren. Anschließend übernahm er eine Professur für Politische Wissenschaften und Politische Bildung an der Hochschule Niederrhein Krefeld / Mönchengladbach.

Klaus Hansen wurde 2013 emeritiert und arbeitet seither ausschließlich als Publizist. 2017 erschien im Kölner Roland Reischl Verlag sein Buch „Soccer – Stories, Lyrics, Essays“ als eine von zahlreichen Veröffentlichungen.

Um die Fußballbegeisterung von Klaus Hansen zu beschreiben, eignet sich insbesondere eine Geschichte um den allerersten Spieltag der neuen Fußball-Bundesliga am Samstag, dem 24. August 1963: Damals brach der 15-jährige Klaus Hansen am Mittwoch zuvor mit dem Fahrrad in Duisburg auf, um drei Tage später rechtzeitig zum Anpfiff des Auswärtsspiels seinen geliebten MSV im Karlsruher Stadion zu sein. Überglücklich über dessen 4:1-Sieg auf des Gegners Platz – die Duisburger „Zebras“ landeten damit nach dem 1. FC Köln und Schalke 04 auf dem dritten Platz – kam er am darauffolgenden Dienstag wieder zu Hause an.

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