In Wahrheit ist es ein Kulturkampf
Ungarns umstrittenes LGBTQ-Gesetz
Von Prof. Dr. Dr. hc. Herbert Küpper
Institut für Ostrecht, München
Am 23.6.2021 erließ das ungarische Parlament Gesetz 2021:LXXIX „über das strengere Einschreiten gegenüber pädophilen Straftätern sowie über die Änderung einiger Gesetze zum Schutz von Kindern“ (in der Folge: AntiLGBTQ-G). Da es im In- und Ausland heftigen Widerstand hervorrief, ist ein kritischer Blick angebracht.
Vorab sei angemerkt, dass es sich um ein in Ungarn so genanntes „Salatgesetz“ handelt, d.h. um ein Gesetz, das zahlreiche vorhandene (im Fall des AntiLGBTQ-G: elf) Gesetze abändert, ohne einem roten Faden zu folgen. Eigentlich sind Salatgesetze wegen ihrer rechtsstaatswidrigen Unübersichtlichkeit verfassungswidrig, aber seit etlichen Jahren stören sich Parlament und Verfassungsgericht immer weniger an diesem Standard. Weil auch das AntiLGBTQ-G ein Salatgesetz ist, gibt der Gesetzestitel den Inhalt nur begrenzt wieder, ja ist sogar in sich schon höchst problematisch. Neben etlichen anderen Inhalten hat das Gesetz die folgenden zwei Regelungsschwerpunkte.
Erstens wird im Strafgesetzbuch der Strafrahmen für Kinderpornographie und sexuelle Straftaten gegen Minderjährige beträchtlich heraufgesetzt. Begleitend werden Strafregisterdaten solcher Täter einem weiteren Kreis als bisher zugänglich. In losem Zusammenhang damit stehen Änderungen im Arbeits- und öffentlichen Dienstrecht über die Durchsetzung von Berufsverboten gegen solche Täter.
An diesem Teil des AntiLGBTQ-G mag man kritisieren, dass es zum Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt und Ausbeutung einseitig auf Repression setzt, obwohl die Kriminologie seit langem die Geeignetheit eines täterzentrierten retraumatisierenden Strafprozesses für den Schutz des Opfers sexueller Gewalt in Frage stellt und Prävention empfiehlt. Von Prävention ist aber in dem Gesetz nichts zu lesen. Auch ist das Adjektiv „pädophil“ im Gesetzestitel zumindest tendenziös, da jedenfalls in der Kinderpornographie Täter auch aus Gewinnsucht und nicht aus sexueller Neigung handeln.
Zweitens verbietet das Gesetz, Minderjährigen Pornographie sowie Inhalte zugänglich zu machen, die Abweichungen von dem sog. „Recht des Kindes auf eine dem Geburtsgeschlecht entsprechende Identität“, Geschlechtsumwandlungen und Homosexualität positiv darstellen. Das Verbot gilt auch für die Eltern, die daher in der Wahl ihrer Erziehungsziele eingeschränkt werden. Auch die Sexualaufklärung in der Schule muss diesen Vorgaben folgen. Fortan dürfen Vertreter von NGOs nur noch zum Sexualkundeunterricht geladen werden, wenn diese zuvor von der Regierung akkreditiert worden sind. Damit können z.B. schwul-lesbische Gruppen im Schulunterricht nicht mehr für Toleranz werben. Auch Reklame, Medien und das Internet dürfen die genannten Inhalte Minderjährigen nicht mehr zugänglich machen. Die Aufsichtsbehörden erhalten erweiterte Kontroll- und Sanktionsrechte.
Diese Regelungen beinhalten gleich mehrere Etikettenschwindel. Zunächst ist das sog. „Recht des Kindes auf eine dem Geburtsgeschlecht entsprechende Identität“, das bereits Ende 2020 auch in die Verfassung aufgenommen wurde, in Wirklichkeit kein Recht, sondern eine Pflicht, weil sie den Betroffenen (das Kind) zwingt, beim Geburtsgeschlecht zu bleiben, und ihm verbietet, dieses zu ändern. Die Regierung behauptet, das Gesetz mache Sexualerziehung zur Elternsache und der Staat ziehe sich daraus zurück. Das Gesetz sieht aber genau das Gegenteil vor: Die Eltern dürfen die Sexualerziehung des Kindes eben nicht mehr nach eigenen Vorstellungen, sondern müssen sie dem repressiven Geist des Gesetzes entsprechend gestalten, und Sexualkundeunterricht verbleibt durchaus im Curriculum der öffentlichen Schulen, wenn auch in der einseitigen Form des AntiLGBTQ-G. Ob diese Beschränkungen mit Grundrechten wie dem Schutz der Privatsphäre, Eltern- und Kinderrechten oder Meinungs-, Presse- und Medienfreiheit vereinbar sind, ist fraglich; jedoch ist von dem regierungshörigen Verfassungsgericht, sollte es angerufen werden, keine für die Regierung unangenehme Entscheidung zu erwarten.
In einer Gesamtbewertung ist das Gesetz v.a. als symbolisch einzustufen. Echte juristische Substanz haben am ehesten die strafrechtlichen Vorschriften. Selbst diese sind hauptsächlich Symbole, da in Ungarn kaum Strafverfahren wegen Sexualdelikten gegen Minderjährige und noch weniger wegen Kinderpornographie stattfinden. Die übrigen, gegen Transgender und Homosexualität gerichteten Vorschriften sind rein symbolisch, schon weil in Ungarn keine geschlechtsanpassenden Operationen vorgenommen werden und Homosexualität seit längerem schon kaum mehr sichtbar ist. Das Gesetz „kämpft“ also gegen nicht vorhandene oder jedenfalls nicht sichtbare Phänomene, was es mit zahlreichen ungarischen Vorschriften gegen „Masseneinwanderung“ gemeinsam hat.
Als Symbol ist das AntiLGBTQ-G durchaus von politischem Wert. Die Regierung präsentiert es als Gesetz zum Schutz von Kindern und Familie und erhofft sich davon Vorteile in den 2021 anstehenden Parlamentswahlen. Dass dieses populäre Ziel durch das Gesetz in Wirklichkeit nicht gefördert, sondern eher konterkariert wird, stört nicht, denn welche(r) Wähler(in) liest schon einen Gesetzestext? Und versteht den Gehalt eines Salatgesetzes mit seinen unzähligen Änderungsvorschriften?
Auch der Tendenz gegen Homosexualität und „Transgender“ stimmt ein Teil der ungarischen Öffentlichkeit zu. Dies trifft auf ganz Osteuropa zu, wie z.B. die russischen AntiLGBTQ-Gesetze, das kroatische Verfassungsreferendum von 2013 oder der behördliche Umgang mit Gay-Pride-Paraden fast überall in Osteuropa zeigen. Wie kommt es zu dieser Rückkehr der osteuropäischen Gesellschaften zu den autoritären Strukturen, die sie doch 1989/90 scheinbar überwunden hatten? Wo die postautoritäre Erwartung des „Endes der Geschichte“ ratlos vor dem Abfall vom anscheinend siegreichen liberalen Modell steht, liefert die postkoloniale Theorie Erklärungsansätze. 1989/90 war das Ziel in Osteuropa die „Rückkehr nach Europa“, man wollte so werden wie der Westen. Schon weil Osteuropa auch vor dem Sozialismus eine periphere Stellung in Europa innehatte und daher (mit Ausnahme der Tschechoslowakei) nicht so war wie der Westen, mussten diese Ambitionen scheitern. Hinzu kam ein arroganter Westen, der die postsozialistischen Staaten wie arme Verwandte behandelte – ein Phänomen, das auch innerhalb Deutschlands bekannt ist. Die Gesellschaften oder jedenfalls ein Teil davon zogen daraus einen „Dann-eben-nicht“-Schluss und wandten sich der eigenen Vergangenheit als identitätsstiftendem Paradigma zu. Verschärft wird die Abkehr von der Moderne durch die demographische Krise, die Osteuropa schärfer trifft als Westeuropa, wozu auch der „brain drain“ von Akademikern, Handwerkern und Facharbeitern nach Westen beiträgt, der v.a. ländliche Gebiete in Osteuropa ohne Arzt, Schreiner und Bauunternehmer lässt. Die Rückkehr in die eigene, imaginierte Vergangenheit beinhaltet auch die Ablehnung von Frauenemanzipation, „Genderideologie“ und Akzeptanz von Diversität als sozialem Grundwert.
Postkoloniale Studien zeigen, dass es für ehemals abhängige Gebiete nicht ungewöhnlich ist, dass sie, wenn ihr Modernisierungskurs nach der Unabhängigkeit scheitert, in einen Kultur- und Richtungskampf geraten, in dem die eine Richtung das „Autochthone“, das meist illiberal präsentiert wird, befürwortet. Ebendies geschieht zurzeit in Osteuropa, sowohl im ehemaligen Mutterland Russland, das sich nach anderthalb Jahrzehnten der Einpassung in die Völkerrechtsordnung wieder auf seine exzeptionalistischen Träume einer Weltmachtgeltung besinnt, als auch in den ehemaligen Kolonien (die übrigen GUS-Staaten und die Warschauer-Pakt-Staaten), wo repressive nationalistische Selbstgenügsamkeit und die Einpassung in die europäische Moderne gegeneinander kämpfen. Da in Ungarn Viktor Orbán erstmals seit 2010 ernsthaft um seine Wiederwahl fürchten muss, weil sich die zersplitterte Opposition zu einigen scheint, zieht er alle Register, um seiner zur ersten Gruppe gehörenden Wählerschaft zu gefallen. Die Opfer sind in diesem Fall LGBTQ-Personen und die Kinder.
Herbert Küpper, geb. 1963 in Frechen, ist Experte u.a. für Ungarn und arbeitet am Institut für Ostrecht in München. Er gibt das Handbuch „Wirtschaft und Recht in Osteuropa“ heraus. Seit 2007 ist er Honorarprofessor der deutschsprachigen Universität Budapest, ganz besonders gefreut hat ihn jedoch vor dem Hintergrund seiner kritischen Haltung gegenüber dem Orban-Regime die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität im ungarischen Pécs im Jahr 2014.