Interview mit dem Anti-Mafia-Kämpfer Leoluca Orlando
am 16. Januar 2023 der langjährige „Boss der Bosse“ der sizilianischen Mafia, der „Cosa Nostra“, Matteo Messina Denero, verhaftet wurde, führte das zu großem Jubel auf der italienischen Mittelmeerinsel, insbesondere in ihrer Hauptstadt Palermo. Nahezu alle von Journalisten auf den Straßen befragten Bürgerinnen und Bürger lobten die Festnahme als einen wichtigen Schritt, um Recht und Ordnung wieder zu mehr Geltung zu verhelfen sowie der Stärkung demokratischer Strukturen. Eine befragte Frau fügte hinzu, dass es über solche Erfolge der Sicherheitskräfte hinaus eines gesellschaftlichen Wandels bedürfte, um spürbar und nachhaltig etwas zu verändern.
Genau mit diesem Anspruch hatte einer der mutigsten und konsequentesten Anti-Mafia-Kämpfer einst seine Kampagne gegen die „Cosa Nostra“ begonnen: Leoluca Orlando, langjähriger Oberbürgermeister von Palermo. Auch für ihn dürfte die Verhaftung Denaros ein Grund zum Feiern gewesen sein. Einen solchen Moment zum Feiern erlebte ich Anfang der Nullerjahre während eines Interviews, das ich damals in einem Hinterzimmer eines Hotels in Hannover mit Leoluca Orlando führte. Die nächsten beiden Absätze fügte ich später für Vorträge hinzu, das Interview, das ich damals veröffentliche und dessen Inhalt nichts von seiner Aktualität verloren hat, folgt im Anschluss.
In einer Welt, in der organisierte Kriminalität und Korruption zu einer großen Hürde für die demokratische, politische und ökonomische Entwicklung geworden sind, stellt der Prozess des Neuanfangs, der in Sizilien – wenn auch verbunden mit Schwierigkeiten und Widerständen – Anfang der 2000er Jahre in vollem Gange war und zuletzt wieder Fahrt aufgenommen hat, ein deutliches Beispiel dar, wie Bürger und die Kommunalpolitik durch Zusammenarbeit speziell auf dem kulturellen Sektor imstande sind, mafiöse Strukturen sowie die damit verbundene Kriminalität und Korruption zurückzudrängen und die Lebensqualität der Gemeinschaft wieder zu verbessern.
Dieser Prozess ist eng mit dem Namen des 1947 geborenen Juraprofessors Leoluca Orlando verbunden. Der war Mitglied des sizilianischen, des italienischen und des europäischen Parlamentes. Nach seiner ersten Amtszeit als Oberbürgermeister von Palermo (1985 – 2000) wurde er Präsident des Sizilianischen Renaissance-Institutes, das sich mit Partnerorganisationen im Ausland „für die Wiedererlangung von Legalität und Kultur auf demokratischer Basis“ einsetzt. Die bisher errungenen Erfolge, heisst es auf der Homepage des Institutes, „wären ohne die aktive Teilnahme und das Engagement von Bürgern aller Schichten der Gesellschaft nicht möglich gewesen.“
„Der Karren braucht zwei Räder“
Durch lebendige Demokratie zurück zu Recht und Kultur
Jürgen Streich interviewt Leoluca Orlando
Der nachfolgende Text und das Interview sind im Herbst 2002 erstmal in den „I. P. I. News“, der Zeitschrift der von der Volkswagenstiftung finanzierten International Partnership Initiative erschienen.
Leoluca Orlando im Interview. Rechts im Bild „AUSSICHTEN“-Herausgeber und -Redakteur Jürgen Streich. Foto: Elisabeth Kann
Die Knüppel, die Leoluca Orlando als Oberbürgermeister der Stadt Palermo, des Zentrums der sizilianischen Mafia, bei seinem Kampf gegen diese immer wieder aus der Hauptstadt Rom zwischen die Speichen geworfen bekommen hat, hätten ihm und seinen Mitstreitern leicht das Leben kosten können. Nach den ermordeten Untersuchungsrichtern Giovanni Falcone und Paolo Borsselino sollte Orlando dem Willen einiger Mafia-Bosse zufolge zur nächsten „prominenten Leiche“ werden. Dass es dazu nicht gekommen ist, hat damit zu tun, dass es der von ihm gegründeten Bewegung La Rete (ital.: Das Netz) und anderen Menschen mit Zivilcourage auf dem Wege lebendiger Demokratie gelungen ist, die Hoheit über das öffentliche Leben aus den verbrecherischen Händen der Mafia zu befreien, es weg von der alles lähmenden Korruption in eine Richtung, in der das Volk der wirkliche Sourverän ist, zu lenken. Diese Phase ging als „Frühling von Palermo“ in die Geschichte Siziliens ein – und dauert, wenn auch unter Schwierigkeiten, an. Das nachfolgende Gespräch mit dem Politiker führte ich bereits im Herbst 2002 in einem Hinterzimmer eines Hotels in Hannover.
Leoluca Orlando war, nach zwei Unterbrechungen, ab Mai 2012 erneut Oberbürgermeister von Palermo und blieb dies bis Juni 2022, als er sich im Alter von 75 Jahren nicht mehr zur Wiederwahl stellte.
Traditioneller sizilianischer Karren.
JS: Sie sind also der Ansicht, dass Recht und Kultur sich gegenseitig befruchten und nötigenfalls auch korrigieren?
Orlando: Genau. Der Karren muss manchmal auch Hindernisse umfahren. Das gelingt nur, wenn beide Räder sich unterschiedlich schnell drehen – aber eben kontrolliert. Mal muß das eine gebremst werden, mal das andere. Oder eines muss beschleunigt werden.
JS: Wie haben Sie diesen Karren in Palermo und schließlich ganz Sizilien so zielgerichtet und energiegeladen auf den Weg bringen können?
Orlando: Indem ich versucht habe, alle Kräfte zusammenzuführen und auf ein Ziel einzunorden: Nämlich das, dass die Menschen ihr Leben und damit ihre Kultur und ihr Recht selbst bestimmen. Dass beides nicht von eigennützigen und verbrecherischen Kräften diktiert werden darf.
JS: Können Sie Beispiele nennen?
Orlando: Die Mafia beherrschte das gesamte Bauwesen. So war das Teatro Massimo seit 1979 wegen angeblicher Renovierungsarbeiten stillgelegt, damit natürlich ein wesentlicher Teil des kulturellen Lebens. Wir haben alles darangesetzt, das Theater auf dem Wege privater Finanzierung zum Jahrestag seines hundertjährigen Bestehens wieder zu eröffnen. Es ist uns gelungen. Die Berliner Philharmoniker sind aufgetreten. Es war ein unvergesslicher und symbolträchtiger Tag.
Das Teatro Massimo in Palermo.
JS: In Ihrer politischen Autobiographie „Ich sollte der Nächste sein“ schreiben Sie, dass die Mafia auch das Erziehungssystem beherrschte.
Orlando: Weil sie wusste, dass ihr Schlüssel zur Macht darin bestand, die Menschen unwissend zu halten. Es gab kaum noch reguläre Schulen. Die Kinder und Jugendlichen wurden in privaten Räumen, die größtenteils wiederum von Mafiosi angemietet werden mussten, so unterrichtet, wie die Cosa Nostra es wollte. Meine Mitstreiter und ich haben erreicht, dass es wieder richtige Schulen gibt.
JS: Überhaupt haben Sie einen Schwerpunkt Ihrer Arbeit auf die Situation von Kindern und Jugendlichen gelegt.
Orlando: Sie sind unsere Zukunft und haben das Beste verdient, das es auf dieser Welt gibt. Die Mafia wollte die Erinnerung der Menschen an die wunderschöne multikulturelle und tolerante Geschichte Siziliens in Vergessenheit geraten lassen. Denkmäler verfielen. Inzwischen haben Jugendliche Patenschaften über Denkmäler übernommen. Sie kümmern sich um deren Restauration und die Wieder-Bekanntmachung ihrer jeweiligen Bedeutung.
JS: Haben Sie die Medien bei Ihrer Kampagne benutzt?
Orlando: Zunächst sind die Medien von der Mafia benutzt worden. Es gab in Palermo eine einzige Tageszeitung. Und raten Sie mal, auf wessen Seite die stand! Ich habe ihr auch in Wahlkämpfen solange kein Interview gegeben, bis es eine zweite – unabhängige! – Zeitung gab. Da einigte ich mich mit der ersten auf ein Experiment: Kinder konnten jeden Tag beschreiben, was sie bewegt, welche Probleme sie haben. Und ich als Oberbürgermeister habe immer am selben Tag handschriftlich geantwortet und den Brief an das jeweilige Kind überbringen lassen. So lernten die Kinder, dass die Anti-Mafia nicht lediglich eine andere Macht ist, sondern ein Herz hat und sich um ihre Belange kümmert.
JS: Stichwort Öffentlichkeit. Sie selbst waren höchst gefährdet, mussten stark bewacht werden und wohnten in Polizei-Kasernen. Nun nehmen Sie wieder am öffentlichen Leben teil.
Orlando: Ja, die Bürger schützen mich. Zum Beispiel, indem tausende Frauen Palermos einen Aufruf an die Mafia unterschrieben haben, mir kein Haar zu krümmen, weil sie andernfalls eine Kampagne gegen diese Verbrecher organisieren würden.
JS: Sie sind auch Abgeordneter in Rom und später des Europaparlamentes geworden.
Orlando: Weil mir bis heute wichtig ist, dass wir, nachdem Sizilien so lange die Krankheit exportiert hat, nun, da es mächtige Mafien in vielen Ländern Europas gibt, die Therapie verbreiten.
JS: Angenommen, alle Staaten der Welt würden sich partnerschaftlich zusammenschließen und Sie würden Präsident. Was würden Sie anstreben?
Orlando: Unter anderem dürften Städte, Gemeinden und Regionen nicht mehr verpflichtet sein, einem Staat anzugehören. Sie müssten frei wählen dürfen, ob sie das oder lieber selbständig eine Stimme im großen Chor darstellen wollen, über dem als gemeinsame Verwaltung die Vereinten Nationen stehen müssten. (…)
Soweit das Interview.
Orlando hatte seine Mitarbeiterin angewiesen, während unseres Gespräches keine Telefonate zuzulassen. Als sie ihm gegen Ende des Interviews dann jedoch eine bestimmte Nummer auf dem Display zeigte, entschuldigte er sich und ging doch dran, denn es war seine Frau. Die hatte eine für ihn frohe Botschaft: Der ehemalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti war wegen Kollaboration mit der Mafia zu 28 Jahren Haft verurteilt worden. Orlando jubelte, bestellte eine Runde Getränke und wir stießen darauf an. Etwas später jedoch, im Italien unter Ministerpräsident Silvio Berlusconi, wurde Andreotti letztinstanzlich freigesprochen. Doch der Anti-Mafia-Kampf ging weiter.
Buchtitel von Leoluca Orlando.
Bitte beachten Sie auch die Rezension des Buches „Ich sollte der Nächste sein“ in der Rubrik „Über Bücher“ und dort unter Sachücher.