Ein Buch über und für das Leben
Jürgen Streich empfiehlt „Kim Wall“ von dem dänischen Journalisten-Ehepaar Ingrid und Joachim Wall über ihre Tochter, eine junge, aufstrebende Journalistin, die von dem Raketentüftler Peter Madsen auf einer Ostseefahrt mit seinem privaten U-Boot ermordet und zerstückelt ins Meer geworfen wurde. Eindrucksvoll berichten sie auch über die Folgen ganz im Sinne von Kim: ein Fond zur Förderung junger Journalisten.
„Wer schreibt, der bleibt“ – diesen Spruch zitieren Journalisten und Schriftsteller gern. Dass er einen wahren Kern hat, beweisen Ingrid und Joachim Wall mit dem Buch „Kim Wall“. Denn ihre Tochter Kim, eine gerade einmal dreißigjährige weltgewandte Journalistin, wurde im August 2017 während einer Recherche auf dem privaten U-Boot des dänischen Raketentüftlers Peter Madsen von diesem getötet und zerstückelt in den Öresund, die Meerenge zwischen Dänemark und Schweden, geworfen. Der Fall ging weltweit durch die Medien.
Schon relativ bald, nachdem klar wurde, dass Kim nicht mehr lebt, fällte ihre Mutter Ingrid, selbst eine erfahrene Journalistin, in einer schlaflosen Nacht zwei Entscheidungen: Sie plante, ein Buch über Kim zu schreiben, denn die „soll als die engagierte und willensstarke Frau erinnert werden, die sie war, als der Mensch und die Journalistin Kim – nicht als das Opfer.“ Und „dass Kim durch einen Stipendienfonds weiterleben soll.“ Zweieinhalb Jahre nach der Tragödie lässt sich sagen: Beides ist auf beeindruckende Weise gelungen. Ingrid Wall, die auch im Namen ihres Mannes Joachim, eines Pressefotografen, schreibt, bringt einem Kim als Menschen und Journalistin derart nahe, dass man sie aufgrund ihres frühen Faibles für Gerechtigkeit, ihrer Menschen-, Tier und Naturliebe und ihres engagierten publizistischen Einsatzes für Schwache und Unterdrückte von Seite zu Seite mehr ins Herz schließt.
Zwar erinnern die tagebuchartig geschilderten Ermittlungsergebnisse und der Verlauf des Gerichtsverfahrens immer wieder daran, dass diese sympathische junge Frau, die noch so viel Gutes vorhatte, nicht mehr lebt. Doch parallel dazu nehmen Ingrid und Joachim Wall die Leser mit auf eine Reise auf Kims Spuren. Diese führt anhand vieler Beispiele aus ihrer Kindheit und Jugend in Südschweden über ihre Studienorte Paris, London und New York bis auf Reportagereisen ins bürgerkriegsgeschundene Sri Lanka, ins vom Rest der Welt abgeschottete Nordkorea und zu der noch immer unter den früheren amerikanischen Atomwaffentests leidenden Bevölkerung der Marshallinseln im Pazifik. Auch China kannte sie bereits gut und wollte gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten für einige Zeit als Korrespondentin dort leben. Doch dann kehrte sie von der eher nebensächlichen Ausfahrt mit dem Klein-U-Boot nahe der Heimat nicht zurück.
Umso mehr empfindet man mit ihren Eltern und ihrem Bruder Tom, einem weiteren Pressefotografen in der Familie, als ihnen die Zuneigung und Wertschätzung, die Kim von Freunden und Kollegen entgegengebracht wurde, selbst zuteil wird und sie durch Kim überall auf der Welt Freunde gewinnen. Gleichzeitig wächst ihre Stiftung derart, dass Stipendien an junge Journalistinnen, die im Sinne von Kim arbeiten, wohl auf Jahrzehnte hinaus gesichert sind. So wird die erste Vergabe an eine Kollegin, der damit Recherchen über das Leiden der grönländischen Urbevölkerung unter der dänischen Kolonialmacht finanziert werden, zu einem Feiertag. Ingrid Wall: „Bestimmt wird Anne bald ebenfalls ein Teil unserer großen, bunten Familie sein.“
Mit „Kim Wall“ ist ihren Eltern nicht nur ein berührendes Buch über ihre Tochter Kim gelungen. Sondern ein Buch über und für das Leben.
Jürgen Streich
Auszüge aus dem Buch „Kim Wall“ von Ingrid und Joachim Wall, 350 Seiten, 20 €, erschienen 2019 im Verlag btb
(…) Mit grenzenloser Trauer und Bestürzung haben wir erfahren, dass die Überreste unserer Tochter und Schwester Kim Wall gefunden worden sind. (…) Sie hat in den verschiedensten Regionen der Welt Geschichten gefunden, die danach riefen, aufgeschrieben zu werden. (…) Sie hat den Schwachen ihre Stimme geliehen, den Bedürftigen und Unterdrückten. Diese Stimme hätten wir noch viel, viel länger gebraucht.
(…) Unsere Kim soll nicht auf das Opfer in einem vielbesprochenen Kriminalfall reduziert werden. Die Erinnerung an sie soll weiterleben und sichtbar sein. Ihr tragischer Tod soll irgendeine Form von Sinn gehabt haben, indem andere junge Journalistinnen in die Welt hinausfahren und die Geschichten aufschreiben können, die Kim durch ihren viel zu frühen Tod verwehrt blieben. (…) Für uns ist die Stiftung eine Möglichkeit, die Erinnerung an Kim wachzuhalten. (…) Wir können dem Bösen nicht den Sieg überlassen und den dunklen Gedanken nachgeben. Es gibt trotz allem so viel Gutes auf der Welt, und dieses Gute muss am Ende gewinnen.