„Mögest du von ermordeten Kindern träumen“

„Mögest du von ermordeten Kindern träumen“

Marina Owsjannikowa setzte mit ihrem mutigen Protest in russischer Nachrichtensendung ein starkes Zeichen gegen den Krieg

Eine Rezension von Jürgen Streich

„Russland ist zu einem Land geworden, in dem das absolut Böse vorherrscht.“ Geschrieben hat diese klare Aussage Marina Owsjannikowa, die kurz nach Kriegsbeginn in der Ukraine mit einer mutigen und spektakulären Aktion ein Zeichen gegen den verbrecherischen und blutigen Irrsinn der russischen Führung unter Wladimir Putin, seinen Schergen und Militärs gesetzt hatte: Die Journalistin war während der abendlichen Haupt-Nachrichtensendung des staatlichen Senders „Kanal 1“ in die Live-Übertragung geplatzt und hatte für ein paar Sekunden ein Plakat in die Kamera gehalten. Lange genug, um den Text, den Owsjannikowa kurz zuvor mit einem Filzstift darauf gekritzelt hatte, erfassen zu können. Das taten zur Prime Time Millionen russischer Zuschauerinnen und Zuschauer. Sie lasen die teils auf Russisch, teils auf Englisch verfassten Sätze:

„Kein Krieg
Beenden Sie den Krieg
Glauben Sie der Propaganda nicht
Hier werden Sie belogen
Russen gegen Krieg“

Natürlich wurde dieser überraschende Auftritt sogleich unterbunden und Marina Owsjannikowa hinter die Kulissen geführt. Dort schlug ihr keinesfalls, wie man denken könnte, Wut oder Entsetzen über die Tat mit der deutlichen Verurteilung des Senders entgegen. Allenfalls Verwunderung darüber, dass die Kollegin so klar und deutlich und ohne jede Rücksicht auf die wahrscheinlichen Konsequenzen Stellung bezogen hatte. Erst, als sie sich in den Fängen der Polizei, die auf dem „Kanal 1“-Gelände eine eigene Station betreibt, befand, sollte sich der Ton spürbar ändern.

„Russen gegen Krieg“ hatte Marina Owsjannikowa geschrieben. Doch stimmte das auch? War sie nicht in Wahrheit eine vereinzelte Aktivistin, die lediglich – wenn auch zu einem hohen Preis – ihr Gewissen beruhigen wollte? Während der Lektüre ihres sehr empfehlenswerten Buches „Zwischen Gut und Böse – Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte“ bekommt man einen anderen Eindruck. Die Autorin beschreibt zahlreiche Russinnen und Russen, die den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilen. Allerdings trauen sich das angesichts drohender drakonischer Strafen immer weniger Menschen öffentlich. Doch Owsjannikowa beschreibt zahlreiche Personen, die ihr verdeckt geholfen haben oder ihr hinter vorgehaltener Hand zu verstehen gaben, dass sie auf ihrer Seite und gegen den mörderischen Krieg seien. In einem Fall traf das sogar auf einen Sicherheitsbeamten zu, der bei einer Durchsuchung von Owsjannikowas Wohnung anwesend war.

Doch auf der anderen Seite gibt es unzählige Menschen, die der Kreml-Propaganda glauben. Noch ist diese Gruppe die größere. So schildert Marina Owsjannikowa, wie sie nach einigen Tagen, in denen sie sich versteckt hielt, zurück in den modernen Stadtteil Neu-Moskau kommt und sieht, dass ein Nachbar die rote Flagge der UdSSR gehisst hat. Doch auf dem Grundstück daneben weht unübersehbar eine Piratenflagge.

Weiter schreibt sie: „Meine Mutter (…) ist wie Millionen von Russen von der Kreml-Propaganda zombifiziert. Von morgens bis abends hört sie Wladimir Solowjow, Putins Chefpropagandisten, der ihr ständig neue Interpretationen vorsetzt und sie lehrt, Ukrainer und Amerikaner zu hassen. Er ist die wichtigste Autorität für sie. Ich bin ein Niemand, eine ‚fünfte Kolonne‘, die versucht, Russland zu zerstören.“ Obwohl Marina Owsjannikowa als Redakteurin miterlebt hat, wie Nachrichten durch Weglassen und das Umschreiben nach vom Kreml vorgegebenen Regeln bis zur Unkenntlichkeit oder gar der Verdrehung von Tatsachen in ihr Gegenteil verfälscht wurden, seien ihre „Versuche, einem geliebten Menschen die Wahrheit zu vermitteln, erfolglos“ geblieben. Die Journalistin: „Jedes Gespräch, das wir über Politik führen, endet unweigerlich in einem Streit.“

Marina Owsjannikowa erklärt auch das Zustandekommen ihrer konsequenten Haltung. Nach traumatischen Kriegserlebnissen als Jugendliche in ihrer damaligen tschetschenischen Heimat, ihrer Flucht von dort und ihrem Ausbildungsweg sei eine Aussage eines im Ausland lebenden Kollegen, den sie sehr schätzte, für sie ausgesprochen wichtig gewesen, gar zu einem Motto geworden. Er habe argumentiert, dass es auch für das eigene Empfinden wichtig sei, in einer Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse auf der Seite des Lichts zu stehen. Andernfalls, wenn das aus Furcht niemand tue, werde die Welt zu einem sehr unwirtlichen Ort.

Ein von russischem Militär zerbombtes Wohnhaus in der Ukraine. Foto: pixabay

Ein schwer verletztes Kind wird in einer ukrainischen Klinik von einer Angehörigen betreut. Foto: UNICEF

Der letzte Auslöser, etwas gegen den Krieg zu tun, seien Bilder, auf denen zu sehen war, wie ukrainische Zivilisten bei russischen Angriffen getötet wurden, gewesen. Zu einem Ermittler sagte sie: „Für den Rest meines Lebens werde ich mich an ein Interview mit Sergej erinnern, das ich in den ersten Tagen des Krieges zufällig auf CNN gesehen habe. Er erzählte dem Moderator, dass er in Irpin seine gesamte Familie verloren hat, seine Frau und zwei Kinder. Der CNN-Moderator weinte im Bild, ich schuchzte hinter den Kulissen. Sein Sohn und seine Tochter waren im gleichen Alter wie meine… Haben Sie Familie? Können Sie sich vorstellen, in Sergejs Schuhen zu stecken…?“ Später schrieb Owsjannikowa auf Zettel, die sie teils in ihren Schuhen versteckte, den Satz „Mögest du nachts von ermordeten Kindern träumen“ und hinterließ die Blätter unauffällig für die Sicherheitsbeamten, die sie unweigerlich finden mussten.

Nachdem Marina Owsjannikowa nach einer ersten, noch milden Strafe, der aber klar absehbar eine viel härtere folgen würde, in ihr Haus zurückgekehrt war, erhielt sie den Auftrag, für N-TV, den Fernsehkanal der „Welt“ aus dem Berliner Springer-Verlag, einen Film in der Ukraine zu drehen. Eindrucksvoll schildert die Journalistin ihr ständiges Verstecken vor russischen Geheimdienstlern, während ein Security-Mann der „Welt“ ihr kaum von der Seite wich, in Moldawien, von wo sie unter schwierigen Umständen in die Ukraine einreiste. Doch dort hatte sich die Stimmung gegen sie gedreht. Immer mehr Menschen glaubten der Propaganda, dass sie in Wahrheit eine russische Agentin sei, die mit ihrem Handeln den Behörden Argumente lieferte, immer härter gegen die eigene Bevölkerung durchzugreifen. So war es ihr kaum möglich, in der Ukraine an brauchbare Informationen und aussagekräftige Bilder zu gelangen. Dennoch reiste sie auf kompliziertem Weg mit dem Material nach Berlin. Dort wurde ihr von der Springer-Leitung bald mitgeteilt, dass man die Zusammenarbeit mit ihr beenden wolle. Nicht etwa wegen des dürftigen Materials, sondern vielmehr aufgrund der gewandelten öffentlichen Meinung über sie. Sie muss sich wie eine heiße Kartoffel, die man fallen lässt, gefühlt haben.

Inzwischen hatte Marina Owsjannikowa erfahren, dass ihr Ex-Mann, der in einer gehobenen Position bei dem Propagandasender „RT“ arbeitete, das Sorgerecht für die beiden gemeinsamen Kinder anstrebte und diese bereits bei ihm lebten. Zwar hielt sie ihm zugute, dass auch er wohl unter starkem Druck von oben stand, was nichts daran änderte, dass er zu keinerlei Gesprächen mit ihr bereit war und die in keiner Weise unabhängige russische Justiz ihm in die Hände spielte. Owsjannikowa beschloss, in die Höhle des Löwen nach Moskau zurückzureisen, um dort ihre Angelegenheiten zu klären.

Der 18-jährige Sohn stand inzwischen weitgehend auf eigenen Beinen und hatte sich aufgrund ihres Protestes von ihr distanziert. Doch der elfjährigen Tochter gelang es, aus der Wohnung ihres Vaters zu fliehen und zu ihrer Mutter zurückzukehren. Aufgrund der Umstände und des längst anberaumten Prozesses gegen sie war nun klar, dass beide fliehen müssten, wenn sie nicht für viele Jahre in Lagerhaft verschwinden und zulassen wollte, dass ihre Tochter beim regimetreuen Vater oder gar in einem Heim landen würde.

Es folgte eine von ihrem Rechtsanwalt und der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ organisierte abenteuerliche Flucht mit wechselnden Fahrzeugen und langen nächtlichen Fußwegen über matschige Felder, bis sie endlich mit ihrer tapferen Tochter über die russisch-finnische Grenze in den Westen geschleust wurde.

Sie sei sich nicht sicher, wie es mit Russland und dem Kriegsgeschehen weitergehe, schreibt Marina Owsjannikowa gegen Ende des gut 200-seitigen Buches. Ebenso wenig wisse sie, ob sie jemals in ihr so mühsam aufgebautes Zuhause in Moskau zurückkehren könne. Sie sei sich aber „absolut sicher“, dass sie „niemand jemals wieder zwingen wird, zu lügen und die zahlreichen Verbrechen des Putin-Regimes zu rechtfertigen.“

Marina Owsjannikowa wird vor einem Gerichtstermin in Moskau von Sicherheitskräften bewacht. Bild: Umschlagfoto Langen Müller

Schon weiter vorne im Buch hatte sie prophezeit: „So wie einst das Wort ‚Deutschland‘ nicht mehr mit Goethe, Bach oder den großen deutschen Gelehrten in Verbindung gebracht wurde, sondern mit einem Wahnsinnigen namens Hitler, den Nazis und dem Holocaust, so steht heute hinter allem, was das Adjektiv ‚russisch‘ trägt, nur Tod, Zerstörung, Aggression und Lügen. Und das auf lange Sicht!“

Nach gelungener Flucht beendet Marina Owsjannikowa ihre Geschichte so: „Zum Glück ist meine Tochter bei mir. Und es gibt mir Kraft, dass viele Menschen uns in dieser schwierigen Zeit geholfen haben.  (…) Sie sind meine Zuversicht, dass das Böse nicht gewinnen kann, dass die Macht auf der Seite des Lichts steht.“

Die Lektüre von „Zwischen Gut und Böse – Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte“ ist ein Muss für alle, die den Einfluss der Staatspropaganda, die aktuelle Entwicklung Russlands und die Zerrissenheit seiner Bevölkerung verstehen wollen. Sehr gut lesbar geschrieben – von einer kompetenten Journalisten-Kollegin mit Mut und Haltung eben.


Marina Owsjannikowa, Zwischen Gut und Böse – Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte. Langen Müller, München 2023, € 17,99

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