Nörvenicher „Tornados“ werden nach Spangdahlem verlegt
„Nukleare Teilhabe“ Deutschlands im Rahmen der NATO ist der Grund
Von Jürgen Streich
Derzeit fragen sich viele Bürger, Kommunal- und Kreispolitiker sowie Journalisten, weshalb einige der derzeit auf dem Nörvenicher Fliegerhorst stationierten Jagdbomber des Typs „Tornado“ vorübergehend auf den US-amerikanischen Stützpunkt Spangdahlem in Rheinland-Pfalz verlegt werden. Die Antwort ist ganz einfach: Weil im ebenfalls rheinland-pfälzischen Büchel, wo die „Tornados“ eigentlich stationiert sind, und in Nörvenich derzeit die Start- und Landebahnen erneuert werden, sind die Maschinen aus Gründen der Alarmbereitschaft an einen dritten Standort verlegt worden.
Die wenigen nach der Einführung des „Eurofighters“ bei der Luftwaffe verbliebenen „Tornados“ werden in erster Linie im Rahmen der NATO-weiten „nuklearen Teilhabe“ als Träger der noch in Büchel verbunkerten amerikanischen B-61-Atombomben bereitgehalten. Der „Tornado“ ist nämlich im Gegensatz zum „Eurofighter“, der dafür aufwendig umgebaut und mit weiterer Technik ausgestattet werden müsste, „atomwaffenfähig“.
Ein „Tornado“ beim Start.
Das müssen natürlich auch die Fliegerhorste, auf denen die Kernwaffen gelagert werden, sein. So war Nörvench bis zum Jahr 2004 selbst Atomwaffenstandort. 25 B-61-Bomben lagerten im nördlichen Teil des Fliegerhorstes größtenteils in sogenannten Iglus, das heißt in oberirdischen Bunkern, aus denen sie schnell herausgeholt und an den Trägerflugzeugen hätten angebracht werden können. Zumeist zwei, zeitweise aber auch drei bis vier B-61 befanden sich in der sogenannten QRA-Bereitschaft (QRA = Quick Reaction Alert). Die QRA-„Tornados“ waren bereits mit den Atomwaffen beladen, die Triebwerke vorgewärmt und die jeweils zwei Mann Besatzung befanden sich in unmittelbarer Nähe der Maschinen. Im Falle eines Atomalarms hätten sie in Minutenschnelle in der Luft sein können, mit einiger Wahrscheinlichkeit noch bevor gegnerische Waffen auf dem Fliegerhorst eingeschlagen wären. Denn der war, wie AUSSICHTEN-Herausgeber und -Redakteur Jürgen Streich von einem früheren Kommodore des Jagdbombergeschwaders 31 „Boelcke“ (heute: Taktisches Luftwaffengeschwader 31 „Boelcke“) weiß, „fünffach abgedeckt“. Man rechnete im Ernstfall also mit fünf Einschlägen nuklearer Waffen auf dem Fliegerhorst. Das habe man aus Geheimdiensterkenntnissen gewusst.
Die QRA-Piloten hätten, wenn sie dem Inferno noch entkommen wären, ihre jeweiligen Ziele erst im Flug erfahren sollen, doch manche wussten dennoch, welches Ziel sie im Ernstfall atomar zerstören sollten. So hätte der genannte ehemalige Nörvenich-Kommodore, als er als junger Pilot selbst gelegentlich QRA-Bereitschaft mit einem inzwischen schon seit Jahrzehnten ausgemusterten Flugzeugtyp hatte, „seine“ Atombombe auf einen sowjetischen Militärflughafen in der Nähe einer tschechoslowakischen Stadt abwerfen sollen. Als die Entspannungsphase zwischen Ost und West es zuließ, hat er diese gemeinsam mit seiner Frau besucht und war froh, die Stadt quicklebendig vorzufinden.
Auf dem Fliegerhorst Nörvenich sind nördlich der Startbahn die Lagermöglichkeiten für Atomwaffen zu erkennen. Foto: Google Earth
Im Kalten Krieg jedoch sind in Nörvenich auch Massenstarts, mit denen versucht werden sollte, sämtliche dort bereitgehaltenen Atombomben auf den Weg zu ihren Zielen zu bringen, geübt worden. Einmal fand ein solcher Massenstart sogar während des Besuchs des sowjetischen Staats- und Parteichefs Leonid Breschnew in Bonn statt.
Bereits in den achtziger Jahren war der Fliegerhorst Nörvenich mit sogenannten Unterflurmagazinen, auch „Atomwaffengrüfte“ genannt, ausgestattet worden. Dabei handelte es sich um spezielle Bodenplatten in den Hangars, unter denen sich je eine B-61-Atombombe befand. Wenn diese Platten ähnlich wie ein Aufzug nach oben gefahren wurden, konnte die nuklearen Waffe von dort aus zügig an den Trägerflugzeugen angebracht werden.
Inzwischen befinden sich in Nörvenich keine Atomwaffen mehr, aber die Infrastruktur dafür ist bis heute einsatzbereit gehalten worden, sodass jederzeit wieder Kernwaffen dort stationiert werden könnten. Die zehn bis zwanzig Atombomben, die als letzte in Büchel verblieben sind, um der Bundesrepubik Deutschland im Rahmen der nuklearen Teilhabe ein Mitspracherecht bei deren Einsatz zu sichern, sind allerdings nicht mit nach Nörvenich „umgezogen“. Das wäre laut dem Nörvenicher Ex-Kommodore zu aufwendig gewesen und hätte von der Gegenseite als Vorbereitung auf einen nuklearen Angriff missverstanden werden können. Im Krisenfall könnten die Bomben jedoch mit Transportflugzeugen zügig aus dem 79 Kilometer entfernten Büchel auf den Fliegerhorst Nörvenich gebracht werden.
Da derzeit aber die Start- und Landebahnen beider Stützpunkte saniert werden, wurden einige Tornados aus Nörvenich nun auf den US-Flughafen Spangdahlem, der gerade einmal 36 Kilometer von Büchel entfernt ist, verlegt. Dort befindet sich außer dem Hauptquartier der US-Airforce für Europa auch die 38th Munitions Support Group mit Untereinheiten auf den genannten Fliegerhorsten, die die nuklearen Bomben bewachen und im Falle eines Atomkrieges freigeben müssten.
Bei der B-61 handelt es sich um eine bereits Ende der fünfziger Jahre entwickelte und seither immer weiter modernisierte Freifallbombe, die außen am Flugzeug getragen werden kann. Sie ist 3,50 Meter lang, hat einen Durchmesser von 33 Zentimetern und wiegt je nach Ausführung zwischen 320 und 540 Kilogramm. Als geboostete Kernwaffe ist sie ein Mittelding zwischen „normaler“ Atom- und einer Wasserstoffbombe. Ihre Sprengkraft ist für eine Waffe dieser Größe beachtlich und kann noch während des Fluges verändert werden. Die Piloten können aus vier Stufen zwischen der relativ geringen Sprengkraft von weniger als einer Kilotonne TNT-Äquivalent (zum Vergleich: Die Hiroshima-Bombe hatte eine Zerstörungskraft von circa 15 KT), um Bunker zu brechen, bis hin zu über 400 KT für Flächenziele wählen. Mithin lagerte in Nörvenich seinerzeit die weit über 600-fache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe.
Die B-61 verfügt im hinteren Teil über einen Fallschirm, der die Bombe so abbremst, dass sie dem Flugzeug, das sie abgeworfen hat, selbst im Tiefflug genügend Zeit zur Flucht aus dem Wirkungsbereich der Explosion lässt. Die neuesten Modelle verfügen über einen Zusatz, der die Bombe mittels der Stabilisierungsflossen nahezu punktgenau ins Ziel steuert.
Bis zum Beginn des bisher größten NATO-Luftwaffenmanövers „Air Defender 23“ Mitte Juni 2023, an dem auch deutsche „Tornados“ und „Eurofighter“ teilnehmen werden, sollen die Start- und Landebahnen in Büchel und Nörvenich vollständig saniert sein, sodass die derzeit in Nörvenich beheimateten „Tornados“ bald darauf an ihren eigentlichen Standort in Büchel zurückkehren können.
Eine B-61-Atombombe in einem ausgefahrenen Unterflurmagazin.