Gespräch mit Robert Jungk
Einmischung
Ein Gespräch mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk
(1913 – 1994)
Foto: JEWIKI
Das nachfolgende Gespräch mit dem Publizisten und Zukunftsforscher Robert Jungk führte ich im Frühjahr 1988 am Flughafen Düsseldorf. Es sollte Grundlage für ein Nachwort, das Bob, wie seine Freunde ihn nannten, für mein Buch „Tödliches Erbe – Eine Polit-Science-Fiction-Geschichte gegen weiteren Rüstungswahn“ verfassen wollte, werden sollte. Doch dann gefiel uns der Dialog so gut, dass wir ihn so abdruckten. Als mich die Redaktion der Zeitschrift Politische Ökologie zwölf Jahre später, im Frühjahr 2000, bat, einen Beitrag über Visionäre, die der Umweltbewegung Impulse verliehen haben, zu verfassen, kam die Rede auch auf das Gespräch mit Robert Jungk. Wir stellten fest, dass es immer noch aktuell war. So erschien es auch in der Juni/Juli-Ausgabe 2000 der Politischen Ökologie und später auch in weiteren Publikationen.
Robert Jungk hieß eigentlich Robert Baum und wurde 1913 in Berlin geboren. Die Tatsache, dass der berühmte Journalist Egon Erwin Kisch zeitweise Untermieter im Hause Baum war und den kleinen Robert oft mit auf seine Recherchetouren nahm, mag dessen Berufsweg vorgezeichnet haben. Denn schon im Alter von lediglich 20 Jahren arbeitete Robert Jungk in Frankreich und im republikanischen Spanien an Dokumentarfilmen. Zwischen 1940 und 1945 schrieb er auch für die Züricher Weltwoche. Nach dem Krieg erlangte er mit den Büchern „Die Zukunft hat schon begonnen“, „Heller als tausend Sonnen“ und „Strahlen aus der Asche“ internationale Berühmtheit. Robert Jungk begründete mit ihnen sein Engagement gegen eine von der Atomkraft beherrschte Welt. Auch seine späteren Bücher wie „Der Jahrtausendmensch“ und „Der Atomstaat“ wurden Bestseller. 1968 wurde Jungk Professor für Zukunftsforschung an der TU Berlin. Ende der achtziger Jahre gründete der Träger des Alternativen Nobelpreises auf der Basis seiner privaten Büchersammlung die Internationale Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Er starb 1993.
Eine Vorbemerkung zum Roman „Tödliches Erbe“: In dieser Science Fiction-Geschichte, die 1988 im Dormagener Zenk Verlag erschien, kommt es zum weltweiten Atomkrieg, den niemand auf der Erde überlebt. Doch ein kleiner Rest der Menschheit befindet sich an Bord einer riesigen Raumstation. Deren Bewohnern gelingt es, mit ihrer künstlichen Welt aus dem Erdorbit in einer Sonnenumlaufbahn zu fliehen. In der Weltraumkolonie „Friendship“ finden sie eine Form des Zusammenlebens, in der Gerechtigkeit, Achtung vor der Kreatur, gewaltlose Konfliktlösungen und die Gewissheit, dass die Menschen nur gemeinsam mit der Natur überleben können, selbstverständlich geworden sind. Doch diese ungewöhnliche Gesellschaft wird von der kriegerischen Vergangenheit eingeholt. Ein Satellit, der im Kalten Krieg für den Fall der Vernichtung der eigenen Seite auf die Ultima ratio der Abschreckung, nämlich schlicht den Auftrag, Leben zu vernichten, programmiert worden ist, hat „Friendship“ fern der Erde aufgespürt…
Das Gespräch
Jürgen Streich (JS): Robert, teilst Du die Hauptaussage meiner Geschichte „Tödliches Erbe“, dass die Politik, die in unserer Welt heute betrieben wird, künftigen Generationen das Genick brechen kann, selbst wenn diese endlich einen vernünftigen Weg eingeschlagen haben sollten?
Robert Jungk (RJ): Ja. Denn ich meine, dass das prinzipiell Neue, das mit den neuen Technologien in die Welt gekommen ist, die Tatsache ist, dass diese nicht nur raumgreifend, sondern auch zeitgreifend sind. Das heißt, dass die Folgen dessen, was geschieht, unvergleichlich viel länger nachwirken, als das früher der Fall war. Schon immer hat jede Technologie tiefgreifende – und nicht selten verhängnisvolle – Konsequenzen gehabt, aber früher ist da nach einiger Zeit Gras ´drüber gewachsen. Die heutigen Technologien greifen jedoch weiter in die Zeit hinein. Sie zerstören nicht nur die Umwelt. sie gefährden und zerstören auch die vor ihnen liegende Zeit. Und das führt zu tiefgehenden sozialpsychologischen Veränderungen: Menschen, die sich nicht mehr vorstellen können. wie und dass es noch lange weiter geht, arbeiten auch nicht mehr darauf hin, sie werden also frühzeitig, das heißt schon heute, zunehmend gelähmt.
Die Menschheit hat schon immer in ihren Projekten weitergelebt, hat versucht, immer wieder etwas anderes und besseres zu finden. Wenn dieser Impuls aber verlorengeht, weil man sagt, das führt ja sowieso alles zu nichts, dann versiegt jeder Zukunftswille. Ich meine, es gibt nicht nur so etwas wie einen Lebenswillen, es gibt auch so etwas wie einen Zukunftswillen. Und dieser Zukunftswille ist nun schon bei vielen Menschen sehr geschwächt – schau´ Dir bloß mal die No-future-Bewegung an. Für viele Zeitgenossen ist es das Lebensgefühl: möglichst viel in möglichst kurzer Zeit herausholen! Sie leben verantwortungslos, weil sie denken, dass es bald zu spät sein wird.
Das sind meiner Ansicht nach Auswirkungen des Wettrüstens. Es stiehlt den meisten Menschen nicht nur die Mittel, auf ein vernünftiges Lebensniveau zu kommen, sondern es stiehlt ihnen auch die Zukunft. Ich habe mich in der neuen sozialen Bewegung engagiert, weil ich die Zukunft erhalten will. Denn ich glaube, dass wir erst einen ganz kleinen Teil der Menschheitsgeschichte hinter uns haben und eine unvorstellbar lange Geschichte mit vielen vielen positiven Veränderungen noch vor uns liegen könnte, mit vielen Entwicklungen, die wir noch gar nicht voraussehen können. Und die würden im Kriegsfall einfach abgeschnitten werden. Das ist das Einzigartige und Verwerfliche am Risiko, das uns die Machtpolitiker aufbürden.
JS: Wie Jonathan Schell geschrieben hat: Wir entscheiden über die Leben der noch gar nicht Geborenen.
RJ: Ja, genau.
JS: Du meinst also, dass wir nicht das von Martin Luther und Hoimar von Ditfurth zitierte Apfelbäumchen pflanzen sollten, weil wir verhindern können, dass „morgen die Welt untergeht“?
RJ: Ich würde es so sagen: Vielleicht können wir es schließlich doch nicht verhindern. Aber wir müssen dennoch alles tun, um es zu verhindern, selbst wenn das manchmal ganz aussichtslos scheint. Wenn ich das nicht einmal versuche, fange ich an, innerlich kaputtzugehen. Und das ist heute schon bei vielen Menschen der Fall. Dieses Gefühl der Resignation ist ja nichts Statisches, sondern es frisst an der Seele. Es frisst am Herzen. Es macht die Menschen seelisch kaputt. Und dann passiert es, dass viele von ihnen saufen, sich in die Drogenwelt – in eine Ersatzzukunft sozusagen – flüchten. Und dann meine ich eben, dass man beim Kampf um eine friedliche Welt nicht nur von der Frage des schließlichen Erfolges oder Misserfolges ausgehen sollte, sondern sich auch aus ganz egoistischen Motiven, aus Motiven des psychischen Überlebens, der Erträglichkeit der heutigen überschatteten Existenz engagieren muss. Selbst wenn die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit eine Illusion wäre, dann kann man auf Veränderung hoffend zumindest in dieser Zeit noch ein Leben führen, das sinnvoll ist. Doch wenn man, wie Viele es jetzt tun, schon abschaltet, dann ist bald alles aus. Das ist eine Art geistiger Selbstmord.
JS: Könnte Initiative für eine gesündere Umwelt, für Frieden, für eine gerechtere Welt schlechthin, ein Ersatz für Drogen sein? Für Drogen und andere Ausgeburten?
RJ: Die Drogen sind der Ersatz! Ich bin der Ansicht, dass diese starke Drogenflut besonders bei jungen Menschen daher kommt, dass man ihnen die Zukunftsperspektiven gestohlen hat und sie nur noch, wenn sie high sind, so etwas wie Begeisterung erleben, ein vorübergehendes Gefühl, dass sie nicht der letzte Dreck sind, dass sie nicht ohnmächtig seien. Der Drogenkonsum und der Raub der Zukunft hängen also ganz eng zusammen.
JS: Welche Entwicklungen müssen daher Deiner Ansicht nach die Menschen, die sich für eine gerechtere und damit bessere Welt einsetzen, vordringlich verhindern?
RJ: Sie müssen verhindern, dass die Welt zugrunde geht. Und sie werden es wahrscheinlich nicht gleich verhindern, sondern zunächst nur bremsen können. Aber sie müssen sich außerdem – das Verhindern alleine ist meiner Ansicht nach nicht genug – überlegen, was man an die Stelle dieses Verhinderns setzen kann. Denn der Mensch lebt nicht vom Verhindern allein. Er lebt nicht aus der Defensive. Der Mensch will auch offensiv werden. Der heutige Mensch hat das Faustische noch in sich, und das muss nicht immer zerstörerisch sein. Man will weiter, will neue Welten schaffen. Ich meine, es ist eine große Schwäche der Friedensbewegung, dass sie sich bisher dieser Aufgabe, der Erfindung friedlicher Umstände, nicht gestellt hat, weil sie sagt, warten wir doch erst einmal ab, ob es überhaupt dazu kommt. Ich meine, so geht das nicht, es kommt nie dazu, wenn ich es mir nicht vorstellen kann. Wenn ich es mir nicht vorstellen kann, kann ich es nicht planen. Wenn ich es mir nicht vorstellen kann, kann ich die Menschen nicht motivieren. Ich kann die Menschen auf die Dauer nicht nur kritisch motivieren.
Ich meine nicht etwa, man müsste die Kritik unterlassen – im Gegenteil! Der Widerstand muss weitergehen, muss sogar verstärkt werden. Aber das ist nur die eine Hälfte dessen, was zu tun ist. Außer Widerstand zu leisten muss aber gefragt werden: Was kommt dann, wenn wir erfolgreich sind? Was wollen wir eigentlich erreichen? Diese Frage verstärkt dann den Widerstand. Denn wenn ich etwas habe, wofür ich leben kann – und sei es auch zunächst nur eingebildet – dann verstärkt das meine Kampfkraft enorm, meine innere Stärke und die kollektive Stärke. Also meine ich, dass das Entwickeln von positiven Vorstellungen, die Vorstellung von einer gerechten und fröhlichen Gesellschaft, von einem erfreulichen Zusammenleben – so, wie die Menschen in Deinem Raumschiff „Friendship“ es tun – von großer Wichtigkeit ist, auch wenn so etwas noch nie Wirklichkeit geworden ist.
Es wird wohl niemals hundertprozentige Wirklichkeit werden, aber wir können dem Ziel nur stets ein bisschen näher kommen. Aber wenn wir uns das Ziel nicht vorstellen, werden wir ihm nicht einmal ein Stück weit näherkommen.
JS: Alles fordern, um etwas zu erreichen…
RJ: … um etwas zu erreichen! Weil ich mir wünsche, dass Zielvorstellungen – Wunschvorstellungen und Phantasien – viel stärker berücksichtigt werden, bin ich auch für Science fiction, wenn sie sich nicht nur in Gewaltvisionen verliert. Ich bin der Ansicht, dass wir mit der Geschichte viel zu wenig phantasievoll umgehen, wie wir auch mit der Gegenwart zu wenig phantasievoll umgehen. Das hängt damit zusammen, dass man Kindern die Phantasie schon sehr früh kaputtmacht.
Die Eltern arbeiten meist an dieser Zerstörung mit, indem sie etwa belehrend einwenden: Ein Haus muss doch ein Dach haben! Du kannst doch nicht so ein schiefes buntes Haus zeichnen mit dreieckigen Fenstern und einem Wellendach. Ein ordentliches Haus muss doch stabil sein. So wird den Kindern gegenüber ständig die bestehende Wirklichkeit gegen ihre Phantasie der vielen Möglichkeiten entgegengehalten. Und damit wird ihnen in einem sehr jungen Alter bereits diese großartige Fähigkeit, radikal anders zu denken, ganz neu zu denken, allmählich genommen. Nach den Eltern kommen dann die Lehrer, die den Kindern die ganzen Fakten der Geschichte und alles das, was angeblich sonst noch gelernt werden muss, ins Gehirn packen. Dann treten die jungen Menschen ins Leben und begegnen überall Vorschriften vom Staat oder ihren Chefs und so geht ihnen oft auch noch der letzte Rest ihrer mächtigsten Kraft, der Vorstellungskraft, verloren.
Nur bei einigen Wenigen, meist sind es Künstler und Dichter, bleibt sie erhalten. Manchmal hört man dann: Kunst sei ja so naiv. Und gar Science fiction oder utopische Romane – natürlich sind die naiv! Weil in ihren Werken die Kinderwelt fortbesteht, weiterlebt und die Welt der Erwachsenen in Frage stellt.
Ein Kind hat noch alle Möglichkeiten vor sich. Es gibt da ein schönes Buch von Edward de Bono, der versucht hat, die Überlegenheit der kindlichen Phantasie zu beweisen. Er hat Kinder aufgefordert zu zeichnen, wie sie sich vorstellen könnten, dass sich ein Hund und eine Katze miteinander vertragen können. Die haben die tollsten Ideen entwickelt, Kinder bis zu einem Alter von sechs, sieben Jahren. Und dann hört‘s meist auf, weil die Schule beginnt. De Bono geht es bei diesem Experiment ums Friedenstiften, um Nicht-Aggression, um die Frage, wie können „Feinde“ sich miteinander vertragen. Und Kinder finden da originellere Wege als Erwachsene. Ich erinnere mich besonders an eine Idee. Da schlug ein Kind vor, „man muss die Katze mit Hundefutter einschmieren und den Hund mit Katzenfutter, dann lecken sie sich gegenseitig ab“ und kommen sich so endlich näher. Man denke einmal darüber nach, was die Umsetzung einer solchen kindlichen Allegorie in die Wirklichkeit bringen könnte!
JS: Du denkst also, dass in den Menschen grundsätzlich Kreativität vorhanden ist?
RJ: Unbedingt! Deshalb trete ich dafür ein, dass man Kreativität zu einem Hauptgegenstand der Erziehung macht. Kreativität sollte an allen Schulen und Universitäten gelehrt werden. Wenn jemand heutzutage an eine Universität geht, bekommt er gleich im ersten Jahr so vieles, was andere gedacht haben, vorgesetzt, dass er kaum mehr dazu kommt, selber nachzudenken und eigene Gedanken zu entwickeln. Ich trete seit langem dafür ein, dass man an der Universität ein Fach Kreativität einrichtet. Dort sollten die Studenten lernen, eigene Ideen zu entwickeln. Und seien sie auch – zumindest auf den ersten Blick – noch so unrealistisch. Dann kann man versuchen, die neuen Ideen mit der gegenwärtigen Wirklichkeit zu konfrontieren, zu fragen: Geht denn das eigentlich? Stimmt denn das nicht vielleicht unter anderen Voraussetzungen? Mir hat mal Professor Gentner, ein bekannter Physiker, gesagt: „Stellen Sie sich vor, ein Mann käme und behauptete, er habe Strahlen entdeckt, die es erlauben, durch das feste Fleisch zu schauen. Der ‚gesunde Menschenverstand‘ würde sagen, das geht doch gar nicht. Die normale Reaktion auf ungewöhnliche Ideen lautet heutzutage: das muss eine Kommission untersuchen. Und solche Kommissionen ‚beweisen‘ meist, das geht doch nicht. Als Röntgen seine Strahlen entdeckte, gab es glücklicherweise noch keine solche Kommission, die seine ungewöhnliche Erfindung verhindern konnte. Er hat eine fruchtbare Idee gehabt und mit ihr erfolgreich experimentiert. Seine Vision entsprach einer neuen erweiterten Wirklichkeit.“
Es gibt einen zweiten Fall in der Wissenschaftsgeschichte, der phantasiereiche Geister ermutigen kann. Als der junge Marconi die Grundidee der drahtlosen Telegraphie vortrug, widersprach ihm ein ganz Berühmter, der Mathematiker Henri Poincaré. Er wandte ein, dass die elektromagnetischen Wellen, die Marconi mit drahtloser Telegraphie schicken wollte, viel zu kurze Reichweiten hätten, um große Distanzen zu überbrücken. Und trotz alledem: Marconis drahtlose Botschaften, die er aus New York schickte, kamen in Europa an. Warum ist es also doch gegangen? Weil niemand daran gedacht hatte, dass die kurzen Wellen von der Wolkendecke über dem Atlantik reflektiert und dadurch weiterverbreitet werden. Das ist ein typisches Beispiel dafür, dass es sich lohnen kann, etwas zu probieren, auch wenn der Erfolg zunächst unwahrscheinlich ist. Manchmal stellt sich dann nachträglich heraus, dass bis dahin ein Faktor übersehen wurde, der dann das vermeintlich „Unmögliche“ möglich macht.
JS: Aber nun ist es ja so, dass immer die negativen Dinge – insbesondere die Technik der Zerstörung – ausprobiert werden, während die positiven Dinge immer leicht wegdiskutiert werden, bevor sie ausprobiert worden sind. Was meinst Du, muss sich ändern – in der Politik und in der Gesellschaft -, dass positive Dinge mehr, als es heute der Fall ist, ausprobiert werden?
RJ: In der heutigen Gesellschaft müsste dieses Erproben konstruktiver Ideen großzügig finanziert werden. Man sollte einen zunehmenden Anteil des Rüstungsbudgets beanspruchen, um damit soziale Erfindungen zu fördern, z.B.: Wie baut man Aggressionen ab? Wie baut man eine Stadt sinnvoll? Wie müsste eine humane Schule aussehen? Welche Methoden der Konfliktregelung sind wirksam? Wie kommt man zu Kompromissen, ohne dass man seine Seele verkauft? Wie schafft man es, aufeinander zuzugehen? Wie schafft man es – das ist das Allerschwierigste – den Frieden faszinierend zu machen? Wie kann sinnvolle Arbeit für alle beschafft werden?
Mir ist sogar an Deinem Buch aufgefallen wie groß die Faszination der Gewalt und des Negativen ist. Den Frieden aber stellen sich die meisten Menschen als langweilig vor. Eine Art Halbschlaf, ein ewiger Sonntag. Da passiert zwar nichts Schlimmes – alle leben ohne Streit -‚ aber im Grunde ist das eine faule Geschichte. Also: Wie macht man den Frieden aufregend? Was gibt es da für begeisternde Aufgaben? Ich meine, es gibt noch viele solche Aufgaben. Zum Beispiel: Wie kann man das Leben verlängern? Wie kann man arbeiten, ohne dass man dabei kaputtgeht? Wie wird man mit Überbevölkerung und Hunger fertig? Es gibt eine riesige Menge von Projekten, die man formulieren und angehen müsste. Man sollte betonen, dass all das positive, aufregende, faszinierende Herausforderungen sind. Ist denn nur der „Avenger“ – der „Rächer“ – eine solche faszinierende Sache?
Ich halte es zum Beispiel für eine der wichtigsten Aufgaben, das Problem zu lösen, wie man in einer künftigen Welt mit doppelt so vielen Menschen wie heute – das wird nicht zu verhindern sein – so leben kann, dass die Leute eben nicht verhungern, dass sie nicht in Riesen-Ballungsgebieten leben müssen, sondern sich besser über die ganze Erde verteilen. Man müsste dafür zum Beispiel tatsächlich die Wüste fruchtbar machen.
Ich befürchte, dass die Friedensfreunde es nicht fertigbringen, die öffentliche Meinung aufzuregen. Es gelingt ihnen nicht, die böse Faszination, die der Krieg der Sterne und die Raketen und andere Waffen ausstrahlen, aufzuwiegen oder zu überbieten. Vielleicht deshalb, weil sie nur Verhinderer sind. „Ich will Gewalt verhindern, ich will brav sein, ich will mich zurückhalten, ich will keine Gewalt anwenden“ – lauter Negativa. „Ich will eine Welt schaffen, in der man kreativ und freudig leben kann“ – das sagt kaum einer. Das wird als Spinnerei abgetan.
JS: Nun hast Du vorhin selbst angeschnitten, dass Geld aus der Rüstung umgeleitet werden sollte – in die Kreativitätsforschung und die Zukunftsforschung zum Beispiel. Was denkst Du sind konkrete Schritte, die möglichst schnell gegangen werden müssten, damit wir das Denken überwinden, das heute die Rüstung hochschaukelt, nämlich dieses Misstrauen gegeneinander? Ich denke, dass Vertrauen etwas ist, das wir ganz schnell verstärken müssen.
RJ: Es gibt da ganz einfache Schritte. Zum Beispiel haben einige Leute organisiert, dass amerikanische und sowjetische Familien sich Familienfotos zuschicken. Nur möchte ich da vor einer Illusion warnen. Ich habe mir früher vorgestellt, dass es sofort klappen muss, wenn Menschen verschiedener Nationalität zusammentreffen. Aber in Wirklichkeit klappt das oft nicht. Dann merkt man erst genau, wie verschieden die Menschen verschiedener Kulturen sind. Es gibt z.B. verschiedene Bewertungen von Reinlichkeit und Ordnung. Wenn man das erlebt, beginnt man sich manchmal zu hassen statt zu lieben. Internationale und interkulturelle Begegnungen sollten zwar stattfinden, aber die unterschiedlichen Lebensweisen müssen vorher genau erklärt werden. So etwas darf nicht rein mechanisch angegangen werden. Ich glaube, dass es tatsächlich eine riesige Aufgabe ist, die Menschen auf die beginnende Planetarisierug einzustellen. Dabei werden die Medien eine große Rolle spielen, die Tatsache, dass die Menschen elektronisch ständig miteinander in Verbindung sind.
Was die Frage des Vertrauens angeht, habe ich seit langem einen Einwand gegen die Science fiction-Literatur Sie basiert leider fast immer hauptsächlich auf Konflikten. Dadurch, dass es fiction ist, dadurch, dass eine spannende Story erzählt wird, muss immer Kampf im Mittelpunkt stehen. Das ist auch bei Deiner Geschichte so. Die Frage ist, ob man nicht eine Art von Science fiction entwickeln müsste, die nicht auf solchen tödlichen Konflikten aufbaut. Ich habe mal für „Pardon“ einen Artikel geschrieben. Der hieß “Science creation statt Science fiction”. Darin habe ich argumentiert, dass wir Phantasien entwickeln, Stories entwickeln müssen, in denen nicht immer Weltraumkriege geführt und andere phantastische Konflikte ausgetragen werden. Denn das ist doch eigentlich eine recht primitive Art, eine Geschichte weiterzutreiben. Es gibt doch andere Wege, einer Story Impulse zu geben, als Gewalt und Gegengewalt, als Sieg und Niederlage.
Deshalb erscheint mir viel von der heutigen Science fiction-Literatur gefährlich. Sie postuliert, dass wir uns vor allem eine Zukunft voller interplanetarischer, intergalaktischer und noch tollerer Konflikte vorstellen müssen. In gewissem Sinn ist solche Science fiction gegenproduktiv, denn sie lenkt die Zukunftsphantasie auf falsche Bahnen.
JS: Du meinst also, die Publizisten sollten einer besseren Zukunft vorausgehen?
RJ: Ja, sie sollten mehr wünschenswerte Utopien entwickeln. Utopien sind Versuche, eine Welt darzustellen, die man ersehnt. Niemand wünscht sich eine Welt, in der man sich gegenseitig umbringt. Es sind allerdings bisher von Autoren immer fertige Utopien geliefert worden. An Deiner Geschichte hat mich besonders der Umbau des Raumschiffes interessiert. Viel interessanter als die Utopie selbst ist doch die Frage, „Wie ist der Weg dahin?“ Der Weg ist das Spannende!
Mir ist an Deinem Buch die Frage nach der Klaustrophobie aufgefallen. Plötzlich müssen da Menschen auf so engem Raum leben – darum haben sie diese und jene Maßnahmen durchgeführt. Ich könnte mir darüber hinaus vorstellen, dass diese Leute – gewissermaßen als Therapie – Zeitreisen,Vorstellungsreisen machen. Dass sie sich kollektiv zumindest in der Phantasie in weite Räume hinaus bewegen, als Gegenvorstellung zu ihrer eingeengten Wirklichkeit.
Ich finde, das Spannende ist nicht das Geschaffene, sondern der Vorgang der Schöpfung. Der Mensch ist ein schöpferisches Wesen, und er hat seine schöpferische Kraft ins Negative umgekehrt. Er muss sie jetzt ins Positive kehren. Ich wiederhole das noch einmal eindringlich: Das kann eine enorm faszinierende Tätigkeit sein.
Ich meine, dass gute Erotik im Grunde auch so etwas ist. Sie ist immer Auseinandersetzung, ist das Zusammenkommen von zwei fremden Menschen. Und Zerstörung hat da nichts zu suchen. Erotik führt zu den verschiedensten Zuständen des Zusammenseins, des Zusammenfließens, geistigen und sinnlichen Erlebnissen, die man für sich allein nicht hat.
Warum muss Auseinandersetzung denn stets in Konflikte führen, müssen die Beteiligten aufeinander einschlagen? Es gibt Sadisten und Masochisten, aber das sind primitive Formen der Paarbeziehung, sie haben einfach bestimmte primitive Haltungen noch nicht überwunden. Paarbeziehung stellt meiner Ansicht nach ein Modell für die Menschenbeziehung überhaupt dar. Es hat einmal geheißen, wir wollen eine Anthropo fiction schaffen, das heißt, eine Science-fiction, in der es nicht um Maschinen, sondern um Menschen und Menschen-Entwicklungen geht. Ich glaube, Ursula Le Guin hat einmal eine Geschichte geschrieben, in der es ein drittes Geschlecht gibt. Mich interessiert eine solche Science fiction-Geschichte mehr als die üblichen “Space operas“.
Es heißt ja, dass wir heute erst ein Zehntel nutzen. Auch sollte man sich damit auseinandersetzen, auf welchen Gebieten die Menschen unterentwickelt sind. Sie sind zweifellos in Fragen der Zusammenarbeit unterentwickelt. Die allermeisten Menschen sind zu sehr auf Konkurrenz getrimmt. Dass Zusammenarbeit in Wirklichkeit verstärkt, dass der Andere meine Verstärkung und nicht mein Feind ist, das ist in noch keiner Science fiction-Geschichte entwickelt worden.
Wenn Du eine solche Geschichte erzählen willst, musst Du natürlich immer Leute ´reinbringen, die die Grundthese bezweifeln oder ihre Verwirklichung verhindern wollen. Nicht unbedingt Kriege, aber ungläubige Thomasse müssen in einer solchen Geschichte vorkommen, und auch Probleme, die keiner bedacht hat. Da gäbe es zum Beispiel eine Science fiction-Geschichte, in der die Menschen dreihundert Jahre alt werden. Das sieht wie ein positives Ziel aus, aber wohin führt es? Das kann zum Teil schrecklich sein, weil diejenigen, die nachfolgen, keinen Platz mehr haben – die Alten nehmen ihn ihnen weg.
Mir fehlen die Themen der Anthropo fiction in der Literatur. Man könnte darin alle Möglichkeiten, von denen geredet wird – wünschenswerte und negative Fähigkeiten – durchexerzieren. Nietzsche hat die Idee des Übermenschen ja nur so hingeworfen. Wie ein Übermensch aussehen würde. das hat er nicht gesagt.
JS: Ich möchte die Anthropo fiction aufgreifen. Du hast vorhin gesagt, dass der Mensch Maschinen erdenkt und deshalb auch bis zuletzt irgendwelche Eingriff- und Einflussmöglichkeiten auf diese Geräte behalten muss. Könntest Du das weiter ausführen?
RJ: Ich möchte dazu folgendes sagen: Der Mensch ist sterblich. Maschinen sind auch sterblich, auch die perfekteste Maschine ist sterblich. Die Maschine ist zwar manchmal stärker, weil sie zum Beispiel schneller ist. Man stellt sich häufig vor, dass eine Maschine unbesiegbar ist – in Wirklichkeit ist sie genauso besiegbar wie der Mensch. Sie hat ihre verborgenen Fehler, sie hat ihre Bruchstellen, ihre Schwachstellen. Und vor allen Dingen kann sie im Grunde ja nur in Zusammenarbeit mit dem Menschen funktionieren. Auch in Deiner Geschichte ist das so, die Maschine ist von Menschen programmiert worden, sie ist auch ein Mensch-Maschine-System. Nur das Programm passt nicht mehr. Das ist für mich das Stärkste an dem ganzen Buch, dass Du einen Computer beschreibst, der für eine Situation programmiert worden ist, die es gar nicht mehr gibt. Das ist wahnsinnig aufregend. Daran sieht man die Stupidität der Maschine. Sie ist dumm.
Ich fände eine Science fiction-Geschichte wichtig, in der die Schwächen der Maschinen stärker betont werden als deren Stärken. Ich habe vor einigen Jahren einmal in Stockholm an einer Konferenz der Akademie der Wissenschaften teilgenommen. Und zwar war das eine Konferenz übers Versagen. Normalerweise werden Konferenzen über Erfolge gemacht. Dort aber waren alle möglichen Leute zusammen, die übers Misslingen und seine Ursachen geredet haben. Da war ein Wissenschaftler, der an Überschallflugzeugen gearbeitet hat. Er hat erläutert, warum, wie und wann Überschallflugzeuge versagen müssen. Ein anderer hat einen Konzern geführt und dargelegt, dass kein Konzern absolut optimal arbeiten kann, weil es immer wieder Fehlentscheidungen geben muss. Aber überall, wo Du hinschaust, gehen die Leute vom Erfolg aus und nicht vom Versagen. Bei den Maschinen setzen sie voraus, dass sie sie stets kontrollieren können. Eine gefährliche Illusion. Das sind die Grenzbedingungen, die zum Beispiel Minister Zimmermann (der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, CSU, der auch für Umwelt und mithin Kernenergie zuständig war; Anm. JS) nicht begreift und die auch andere Leute nicht begreifen. Sie begreifen nicht, dass Versagen gewissermaßen in die Dinge und Menschen eingebaut ist. Und das muss ja auch so sein, denn nur da, wo es Versagen gibt, ist man ja angeregt, etwas dann besser zu machen. Deshalb ist das Versagen nicht nur etwas Negatives, sondern auch etwas Positives. Man kann nur verbessern, wenn etwas nicht optimal läuft. Also ist das Versagen auch eine Voraussetzung für Kreativität. Nicht der Erfolg, sondern das Versagen.
JS: Du hast jetzt eine Reihe von Anforderungen und Wünschen an die Science fiction-Literatur gestellt. Und Du hast Vorteile dieser Sparte herausgestrichen. Deshalb möchte ich gerne wissen, was Du für eine Science fiction-Geschichte schreiben würdest.
RJ: Ich würde gerne eine Science fiction-Geschichte von der Wiederkunft des Paradieses, vom zweiten Paradies, und dessen Verlust schreiben. Ich würde gerne noch einmal das biblische Paradies konstruieren, aber auf einer späteren Stufe der menschlichen Entwicklung. Nicht eine Story von Adam und Eva mit dem Apfel, sondern von Adam und Eva mit allem, was die moderne Technik heute an Versuchungen zur Verfügung stellt. An einem gewissen Punkt kommt auch da der Sündenfall und dieses zweite Paradies geht wieder verloren. Doch nicht für alle Ewigkeit. Man muss es wieder schaffen – zum dritten Mal. Der Mensch ist verpflichtet, immer wieder Paradiese zu schaffen. Diese unendliche Reihe von immer neuen Paradiesen würde mich interessieren. Wobei in jedem Paradies etwas vorhanden ist, was es im vorherigen noch gar nicht gab. Ich möchte das Bild von der Goethischen Spirale benutzen. Das heißt, ich komme bei jeder Windung an den gleichen Punkt, aber stets auf einer höheren Ebene. Ich habe ja noch nie wirklich daran gedacht, Science fiction zu schreiben, aber es gibt noch etwas, das mich wahnsinnig fasziniert: Du hast Dir all das, was Du von dem Raumschiff „Friendship“ schreibst, in einem Zeitraum ausgedacht, der viel kürzer ist, als die vielen Jahre, die das Schiff unterwegs ist. Das heißt, dass das Tempo der menschlichen Phantasie viel schneller ist, als die Verwirklichung der Phantasie. Ich kann in meiner Phantasie in kürzester Zeit viel weiter fliegen als irgendein Raumschiff.
Ich habe vorhin davon geredet, dass die Menschen im Raumschiff zwar gefangen sind, aber selbst dann in der Phantasie dieses Gefängnis verlassen können. Der Mensch hat die Möglichkeit, in seiner Phantasie mit einem enormenTempo die größten Weiten zurückzulegen. Er kann Hindernisse, die in Wirklichkeit unüberwindbar sind, wie nichts überwinden – es ist ja nur Phantasie. Indem er sie aber in seinen „Spinnereien“ überwindet, findet er vielleicht den Weg, wie er sie einmal wirklich überwinden kann. Dieser Aspekt scheint mir heute zu schwach entwickelt zu sein.
Wenn ich heute eine Religion zu verkünden hätte, wäre es eben eine Religion der Kreativität mit dem Menschen als Kreator. Bei den meisten Menschen gibt es noch ein enormes ungenutztes Potenzial. Und es gibt Milliarden Menschen, deren Kreativpotential überhaupt nicht ausgebildet ist, weil sie frühzeitig eingschüchtert worden sind. Das ist vielleicht unsere letzte große Energiequelle. – Darüber würde ich gerne schreiben: „The last energy resource“.
JS: Wir sollten also eine geistige Kreativitätsspirale gegen die Rüstungsspirale setzen?
RJ: Ja genau. Das ist sehr gut formuliert. Und da dürfen wir uns nicht kaputtmachen lassen, indem es heißt: Das ist ja nur Gedachtes, das ist ja nur Geschriebenes, das sind ja alles nur Phantasmen. Doch – Gedanken, die man in die Welt setzt, indem man sie ausspricht, sind nicht mehr nur Phantasmen. Die sind geboren, sie können wachsen, bis sie erwachsen sind. Es regt mich am meisten auf, dass ich bei vielen jungen Menschen – sogar meinem Sohn – sehe, dass sie ungläubig fragen, „Wie können denn Wünsche Wirklichkeit werden? Das ist doch alles nur Phantasterei.“ Dann sage ich: „Du, wenn Du gar nicht erst anfängst zu phantasieren, dann kann überhaupt nichts Wirklichkeit werden.“
Es kann sein, dass nur ein Bruchteil von dem, was man sich ausdenkt, Wirklichkeit wird. Aber erst einmal muss man sich etwas ausdenken, dann zieht sozusagen der Gedanke, die Vorstellung, die Phantasie die Wirklichkeit nach sich. Ich stelle mir also die Phantasie als einen enormen Magneten vor, der Wirklichkeit nach sich zieht. Wenn ich diesen Magneten ausschalte, dann kann nichts mehr werden. Deshalb bemitleide ich Menschen, die heute sagen, Utopien hätten keinen Sinn, weil sie ein „Wegrennen in die Unwirklichkeit“ sind.
In meinem Buch „Prinzip Ermutigung“ habe ich argumentiert, dass es drei Arten sogenannter Realisten gibt. Die einen sehen nur eine Ebene der Realität, nämlich das, was schon geworden ist. Ich sehe auch die zweite Ebene dessen, was sich schon vorbereitet. Und ich sehe noch eine dritte Ebene der Realität, die die größte ist, nämlich die Realität der Wünsche und Phantasien. So gibt es also ein Dreideckermodell der Realität, ein Modell der aufsteigenden Realität. Das, was die üblichen Realisten sehen, ist nur das Oberflächliche. Das, was darunter ist, sehen sie nicht. Aber das ist das, wovon die Menschheit weiter lebt. Sie lebt aus diesem Fundus der sich ständig erneuernden Ideen.
JS: Also sollten wir alle Menschen auffordern, ihre Gedanken und Phantasien viel stärker zu äußern.
RJ: Und sie auffordern, sich deswegen nicht auslachen zu lassen! Die meisten genieren sich da noch. Da ist es ähnlich wie bei der Sexualität. Falsche Scham blockiert die Liebe. Es gibt auch eine Scham des radikalen Denkens, das sich nicht nackt und triebhaft zu zeigen wagt. Stell‘ Dir doch mal vor, es hätte ein Mensch vor fünfzig oder hundert Jahren beschrieben, wie unsere Welt heute tatsächlich ist – dass wir Riesen-Distanzen fliegen können, dass wir augenblicklich mit Menschen auf der anderen Seite des Erdballs reden können -‚ er wäre doch als Spinner abgetan worden. Du musst Dir einmal ansehen, wie die Börsen heute arbeiten, und zwar vierundzwanzig Stunden am Tag. Da werden Riesen-Vermögen hin- und her geschoben, kreuz und quer über den Globus, nur durch Weitergabe von Worten. Da wird also mit Phantasie Wirklichkeit gemacht.
JS: Das sollten wir auch tun!
RJ: Ja, das sollten wir auch tun. Das sollten wir nicht nur dem Stock Market überlassen. Weil dort natürlich hinter den Symbolen Geld steckt, kommt auch der Moment, in dem Du zahlen musst. Wenn Du aber mit Deinen Phantasien kommst und hast keine Macht dahinter, dann ändert sich gar nichts. Aber ich bin der Ansicht, dass das gesamte Können und die gesamten Fähigkeiten der Menschheit miteinander auch ein ganz realer Wert sind. Wenn der eingesetzt wird, ist er genauso wichtig wie der Goldstandard. Die Börsenspekulanten behaupten, sie haben soundso viel Geld auf der Bank. Wir Bürger behaupten, wir haben viele kreative Fähigkeiten – das ist ja auch was, oder? Also stimmt es ja gar nicht, dass wir alle so besitzlos sind und dass wir den sogenannten Kapitalisten das Wohl oder Übel unserer Welt überlassen müssen. Ich hielte es für eine Lösung unserer Probleme, wenn wir die brach liegenden Kräfte der Milliarden Menschen, denen man nie die Möglichkeit gegeben hat, sie zu entwickeln, wecken könnten. Ich setze dabei sehr auf die Dritte Welt, weil dort viele menschliche Fähigkeiten noch nicht so geschädigt sind wie bei uns Opfern der industriellen Zivilisation. Noch ist die Dritte Welt in einer Phase, in der sie durch enormen Erfolg der westlichen Welt eingeschüchtert ist. Je mehr diese Menschen sehen werden, dass die westliche Zivilisation nicht so glänzend funktioniert, wie sie vorgab, werden sie Mut zu ihren eigenen verschütteten Vorstellungen fassen. Dann fließt ihre uralte mythische Phantasie in die Geschichte ein. Wenn Du Dir vorstellst, dass wir, die weiße Bevölkerung, in einhundert Jahren vielleicht nur noch ein ganz kleiner Bruchteil der gesamten Weltbevölkerung sind, dann musst Du darauf setzen, dass ganz andere Entwicklungen vor allem aus der heutigen Dritten Welt kommen werden.
Mir hat einmal einer der beiden Physiker, die für die Entdeckung des Asymmetrie-Prinzips in der Welt der kleinsten Materieteilchen den Nobelpreis erhalten haben, gesagt: „Wissen Sie, weshalb wir das herausfinden konnten? Weil Asymmetrie in China als schön gilt. Im Westen hält man nur Symmetrie für schön. Deshalb konnte sich niemand Asymmetrie als etwas Perfektes vorstellen. Das ergab eine Denkbarriere.“ Auf diese Weise wird sich meiner Ansicht nach unser Horizont durch den Einfluß anderer Kulturen noch gewaltig erweitern. So könnten künftig das nicht-lineare Denken und eine andere Auffassung von der Zeit noch eine große Rolle spielen. Stell‘ Dir doch einmal eine Science fiction-Story vor, in der die Menschen ganz anders mit der Zeit umgehen. Eine Science fiction-Story, in der die Uhren stehenbleiben. Wie leben Menschen ohne Uhren? Was entwickelt sich da? Erstmal wohl ein Riesen-Chaos, aber dann organisieren sie sich doch irgendwie. Und was passiert dann? Solche Fragestellungen werden wir hundertfach erleben.
Ich könnte mir auch vorstellen, dass uns die fast unvermeidlichen technischen Katastrophen als Herausforderungen auf einen ganz anderen Weg führen. Dennoch werde ich niemals sagen, wir brauchen die Katastrophen. Wir sollten auch ohne sie neue Wege finden im All der zahllosen Möglichkeiten.
JS: An dieser Stelle möchte ich Dir, lieber Robert, nicht nur für diesen Beitrag zu meinem Buch, sondern vor allem für Deinen seit Jahrzehnten unermüdlichen Einsatz für eine Welt, in der Menschen und Natur nicht nur über-, sondern auch unter würdigen Bedingungen leben können, herzlich danken.