Klagegesänge eines Fußballfans (Folge 3)
Vergangenheitsabwertung
An dieser Stelle wird es bis zur Fußball-Weltmeisterschaft (So., 20. November bis So., 18. Dezember 2022) in Katar eine Artikelserie des emeritierten Politologieprofessors und Publizisten Dr. Klaus Hansen geben.
Graphik: Klaus Hansen
Von Klaus Hansen
Vereine, die gestern erst auf dem Reißbrett erfunden wurden, RB Leipzig zum Beispiel, drängen Vereine mit 120-jähriger Existenz mühelos ins Abseits, um sich selbst gleich ganz oben anzusiedeln, national und international. Vereine ohne ein Gestern bestimmen das Morgen.
RB Leipzig wurde 2009 gegründet und startete in der fünftklassigen Oberliga Nordost. Bereits 2016 war man in der 1. Bundesliga angekommen und bereits 2017 in der Champions League. Als „e. V.“ muss der Verein mindestens sieben Mitglieder haben. Er hat 21. Auf Mitglieder legt man keinen Wert, weil man demokratische Strukturen und Kontrollen ablehnt. Die würden dem schnellen Erfolg nur im Wege stehen. Demokratie ist etwas für Ponyhof und Bullerbü. Im Sport geht es um objektiv messbare Leistung und technokratisch planbaren Erfolg, nicht um subjektive Meinungen und launige Mehrheiten.
Ein München 1860, eine Alemannia 1900, ein Schalke 1904 – Geschichte und Tradition, Mitgliederzahlen (die in die Hunderttausende gehen, Schalke: 160.000) und Jahreshauptversammlungsdemokratie, das alles ist Schnee von gestern. Allein der dollargesponserte Welterfolg autokratisch geführter Smart-Clubs zählt.
Die Verlogenheit des Namens sagt eigentlich schon alles: RB übersetzt sich behelfsweise mit Rasen-Ball, weil der Verein den Namen der Firma, der er gehört, Red Bull GmbH, nicht tragen darf. Auf den Trikots darf Firmen- und Warenwerbung seit 1973 gemacht werden, im Vereinsnamen aber noch nicht. So will es ein Verbot des DFB. Ein löchriges Verbot. Denn eine „Werkself“ aus Leverkusen darf sich ungestraft „Bayer“ nennen. Das „Naming“ im Profi(t)fußball ist überhaupt ein verlogenes Geschäft. Die „Champions League“ gaukelt vor, die Liga der Meister zu sein. Aber selbst der Viertplatzierte der Bundesliga darf noch mitmachen.
Was die Namen angeht, sind wir alten Fans in einer Märchenwelt der Kosenamen groß geworden. Da zogen „Zebras“ den „Löwen“ das Fell über die Ohren; da stutzten „Störche“ den „Adlern“ die Flügel, und entschlossene „Kleeblätter“ stießen wütende „Füchse“ in den Abgrund. Die Versuchung, eine Limonadendose für einen Stier zu halten, ist uns glücklicherweise erspart geblieben.
Die alte Alemannia tritt gelegentlich gegen die alte Germania an. Hier sucht man die Verbindung zu frühmittelalterlichen Bevölkerungsgruppen, an deren sagenumwobener Tüchtigkeit man sich messen will. Ein RB misst sich allein an der Penunse, die das Business abwirft, genauer: an der Steigerung des Umsatzes von kontaminierter Aufputschbrause. Der Fußball ist zum Marketinginstrument für „Energydrinks“ geworden.
Für uns Fußballfreunde, die wir nicht nur das Fußballspiel mögen, sondern erst recht den alten Verein, der es spielt, dessen Farben wir tragen und den wir mit Hingabe unterstützen, wird mit dieser Entwicklung ein „historischer Wandteppich“ (Ben Marlow) zerstört, auf dem wir uns zu Hause fühlten und die Helden und Schlachten vergangener Tage immer wieder neu aufleben ließen. Mit RB kann man nicht über „früher“ reden und sich Anekdoten über Uns Uwe und Schädel-Harry erzählen. Aber wer von früher reden will, ist ohnehin von gestern. Heute gilt es, „die Augen geschlossen nach vorn zu richten“, wie schon Helmut Kohl unmissverständlich forderte.
Dietrich Mateschitz kann das nun nicht mehr, seine Augen nach vorne richten. Der Gründer und Mitinhaber der Red Bull GmbH ist am 22. Oktober 2022 gestorben. Als Mateschitz 2009 das „Projekt“ RB Leipzig aus der Taufe hob, wischte er Einwände wie „Retortenverein“, „geschichts- und gesichtslos“, „ohne Tradition“ vom Tisch: „In 500 Jahren wird Schalke 600 Jahre sein und wir 500. Keiner wird mehr einen Unterschied machen.“ Als Geschäftsmann hat er einen Sinn für die quantitative, die physikalische Zeit, einen Sinn für Proportionen scheint er nicht zu besitzen. Denn ein zu Marketingzwecken gegründeter Verein wird aufhören zu existieren, wenn er seinen Zweck nicht mehr erfüllt. Ein von minderjährigen Straßenfußballern aus purem Spaß an der Freude gegründeter und von den Massen durch die Zeitläufte getragener Verein wie Schalke 04 wird auch dann noch weiter existieren, wenn es ihn eines Tages nicht mehr geben sollte.
Klaus Hansen. Foto: Jürgen Streich
Über den Autor
Klaus Hansens Interessensgebiete reichen von A wie Anarchismus bis Z wie Zivilcourage. Ganz wichtig dazwischen: F wie Fußball. Diese Sportart beleuchtet er in seinem neuen Buch aus allen Richtungen. Dabei zeigen viele seiner Geschichten, Gedichte, Essays und Graphiken, wie sehr Fußball die Gesellschaft und den Zeitgeist abbildet – ob auf dem Platz, auf den Zuschauerrängen, außerhalb der Stadien und auch in den Medien. Bis hinein in die große Politik wirken die Vergaben und Inszenierungen internationaler Turniere.
Hansen, geboren 1948 in Pronsfeld in der Eifel, studierte Psychologie, Soziologie, Publizistik und Ethnologie an der Universität Münster und wurde 1977 zum Doktor phil. promoviert. Es folgten verschiedene Dozententätigkeiten, von 1992 bis 1996 war er Regierungsdirektor im Bundesministerium des Inneren. Anschließend übernahm er eine Professur für Politische Wissenschaften und Politische Bildung an der Hochschule Niederrhein Krefeld / Mönchengladbach.
Klaus Hansen wurde 2013 emeritiert und arbeitet seither ausschließlich als Publizist. 2017 erschien im Kölner Roland Reischl Verlag sein Buch „Soccer – Stories, Lyrics, Essays“ als eine von zahlreichen Veröffentlichungen.
Um die Fußballbegeisterung von Klaus Hansen zu beschreiben, eignet sich insbesondere eine Geschichte um den allerersten Spieltag der neuen Fußball-Bundesliga am Samstag, dem 24. August 1963: Damals brach der 15-jährige Klaus Hansen am Mittwoch zuvor mit dem Fahrrad in Duisburg auf, um drei Tage später rechtzeitig zum Anpfiff des Auswärtsspiels seinen geliebten MSV im Karlsruher Stadion zu sein. Überglücklich über dessen 4:1-Sieg auf des Gegners Platz – die Duisburger „Zebras“ landeten damit nach dem 1. FC Köln und Schalke 04 auf dem dritten Platz – kam er am darauffolgenden Dienstag wieder zu Hause an.