Klagegesänge eines Fußballfans (Folge 4)
Wer zahlt, schafft an
An dieser Stelle gibt es bis zur Fußball-Weltmeisterschaft (So., 20. November bis So., 18. Dezember 2022) in Katar eine Artikelserie des emeritierten Politologieprofessors und Publizisten Dr. Klaus Hansen.
Von Klaus Hansen
Typographie: Klaus Hansen
Wie der große Finanzier des Profisports, das werbefinanzierte Privatfernsehen, im Namen der TV-Tauglichkeit sogar in das Regelwerk von Sportarten eingreift, zeigen Beispiele aus letzter Zeit. Im Tischtennis ist aus Gründen televisionärer Sichtbarkeit der Ball jetzt 40 statt 38 Millimeter groß. Um die Rasanz des Spiels zu erhöhen, wird nur bis elf und nicht mehr bis 21 Punkte gespielt. Das Aufschlagsrecht wechselt alle zwei Punkte. Abwechslung steigert die Spannung. Die Technik des verdeckten Aufschlags ist verboten, denn dem Zuschauer soll nichts verborgen bleiben. Verliert er den Überblick, schaltet er um oder aus.
Im Volleyball sind die Bälle nicht mehr weiß, sondern bunt. Volleyballerinnen müssen bikiniartige Trikots tragen, weil der TV-Kunde es „sexy“ möchte. Die Spielerinnen fügen sich. Sie sagen, „ohne Fernsehen wäre unser Sport tot“.
Die Forderungen des Privatfernsehens, beim Fußball die Halbzeiten abzuschaffen, um bei drei Dritteln mehr Werbeunterbrechungen zu bekommen, werden immer wieder erhoben, erfolglos bislang. Beim Basketball hat man sich mit der fernsehgerechten Aufbrezelung durchgesetzt. Es gibt keine zwei Halbzeiten mehr, sondern vier Viertel.
Als vor Jahren das Bestreben war, den nordamerikanischen Fernsehmarkt für das Soccer-Spiel zu gewinnen, wurde vorgeschlagen, die Tore zu vergrößern, das Mittelfeld zu verkleinern, die Abseitsregel abzuschaffen und die Möglichkeit des Unentschiedens aus dem Reglement zu streichen, um nordamerikanischen Wahrnehmungsgewohnheiten entgegenzukommen. In den drei National- und Leitsportarten Nordamerikas – American Football, Baseball und Basketball – fallen immer viele Treffer, und viele Treffer sind eine Zuschauerattraktion, befriedigen sie doch auch ein weiteres Faible amerikanischer Sportfans: die Lust auf Buchführung und Statistik. Bei einem Nullzunull im Fußball gibt es nicht viel zu notieren. Mit größeren Toren, kleinerem Platz und ohne Abseits wären auch im Fußball viele Tore möglich.
Im amerikanischen Sport gibt es immer einen Sieger, eine Punkteteilung kennt man nicht. Ein Unentschieden ist etwas für Schwächlinge. Einige konservative Republikaner nannten das Remis gar ein „sozialistisches Element“. Nur Linke teilen Punkte.
Die FIFA lehnte die Veränderungen damals ab und rühmte sich anschließend als Gralshüterin der Tradition. In Wahrheit waren ökonomische Überlegungen ausschlaggebend. Denn die vielleicht in Nordamerika hinzugewonnenen Zuschauer hätten die in der übrigen Welt verprellten Anhänger des Sports nicht aufgewogen.
Das Spiel schneller, torreicher und spannender zu machen, daran wird seit den 1990er Jahren intensiv gearbeitet. Damit soll die Attraktivität der TV-Ware Fußball erhöht werden. Fünf diesbezügliche Regeländerungen seien vorgestellt.
Auswechslungsregel. Bis 1967 waren Auswechslungen im Fußball nicht möglich. Auch ein verletzter Spieler durfte nicht ersetzt werden. Dann änderte man die Regel aus „humanitären Gründen“. Erst war es ein verletzter Feldspieler pro Mannschaft, der kompensiert werden durfte, dann wurden es zwei. Das galt bis 1994. Ab 1995, nun hatte sich das Privatfernsehen bereits etabliert, wurde die Zahl auf drei erhöht und die Restriktion „verletzungsbedingt“ aufgehoben. Seit 2022 sind nun fünf Auswechslungen pro Spiel möglich. Ein Trainer kann also während eines Spiels die Hälfte seiner Feldspieler nach Gutdünken austauschen. Dadurch soll das Spiel, so die Hoffnung, seine hohe Intensität bis zur Schlussminute beibehalten, was der Spannung zu Gute kommt. – Nur nebenbei: Die reichen Clubs profitieren davon mehr als die armen. Auch hier wieder der allgegenwärtige Matthäus-Effekt: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Die Qualität der Spieler, die bei Bayern München auf der Bank sitzen, übersteigt heute die Qualität der Spieler, die beim VfL Bochum die Stammelf bilden. Die Schere zwischen Arm und Reich geht noch weiter auseinander.
Rückpassregel. Um weniger Leerlauf und mehr Action ins Spiel zu bringen, denn auf dem Bildschirm muss immer Halligalli sein, hat man 1992 die „Rückpassregel“ verändert. Bis dahin durfte man 100 Jahre lang den Ball zum eigenen Torwart zurückspielen, und der durfte die Kugel dann mit den Händen aufnehmen, sie vor sich hin wiegen, einige Male auftippen und dann in aller Seelenruhe abschlagen. Jetzt darf der Goalie den Rückpass nur noch mit dem Fuß berühren und weiterkicken. Das geht schneller und ist, bei der fußballerischen Unbeholfenheit so mancher Keeper, riskanter, – und schon sind ein paar Minuten an „Nettospielzeit“ plus Spannung hinzugewonnen. „Mehr Netto vom Brutto!“ ist also nicht nur eine Wahlpropaganda der FDP.
Dreipunkteregel. Seit 1995 gilt die Dreipunkteregel in der Bundesliga. Statt zwei Punkte für einen Sieg, gibt es nunmehr drei. Bei einem Unentschieden erhalten beide Teams je einen Punkt; man „lässt also zwei Punkte liegen“, wen man nur remis spielt. Der torreiche Angriffsfußball soll forciert werden. Die Amerikanisierung des Fußballs findet also doch statt, was auch an der Abwertung des Unentschiedens erkannt werden kann. Eine Mannschaft, die von den 34 Spielen einer Saison keines verliert, steigt dennoch ab, wenn sie 34mal remis gespielt hat, denn mit 34 Punkten schafft man üblicherweise nicht den Klassenverbleib. Vielleicht folgt der Abwertung des Unentschiedens bald seine Abschaffung.
Abseitsregel. Obwohl ein Spieler im Abseits stand, kann das Tor dennoch zählen, wenn es sich um eine „passive“ Abseitsstellung gehandelt hat. Diese Differenzierung zwischen „aktivem“ und „passivem“ Abseits wurde 2005 in der Bundesliga eingeführt. Wieder geht es darum, mehr Tore ins Spiel zu bringen. Der Preis: Für den Schiedsrichter wird die Entscheidungsfindung schwerer. Fußball war einmal ein einfaches Spiel. Nun wird es, auch für den Zuschauer, immer komplizierter.
Mehrballsystem. Über 100 Jahre war es Gesetz, dass nur mit einem Ball gespielt werden durfte, dem, mit dem der Anstoß ausgeführt wurde. Nur wenn der kaputt ging, konnte er ersetzt werden. Landete der Ball im Aus, hatten die Balljungen oft lange Wege, um ihn wieder zu besorgen. Das dauerte. Heute gilt das „Mehrballsystem“. Rund ums Spielfeld liegen Bälle zur Verfügung, die blitzschnell den Ausball ersetzen, so dass ein Einwurf kaum mehr eine Unterbrechung bedeutet, sondern, im Gegenteil, zum Beschleunigungsfaktor wird. Heute kann es passieren, dass in einem Spiel 15 Bälle zum Einsatz kommen.
Alle diese Neuerungen haben also den Zweck, Tempo, Tore und Stimmung zu machen. Mit einer weiteren Neuerung stößt man nun alles wieder um, was man gerade mühsam aufgebaut hat. Denn die Videokontrolle macht das Spiel langsamer und killt die Stimmung. Minutenlange Tor- und Abseitsüberprüfungen sind tödlich für den „Flow“.
Inzwischen sind sechs Regelhüter pro Spiel im Einsatz, rechnet man den “Vierten Offiziellen“ und die beiden Video-Referees hinzu. Seit nunmehr fünf Jahren geht das schon so, und Woche für Woche bestätigt sich die alte Volksweisheit, dass „viele Köche den Brei verderben.“ Die schwarze Zunft der Schiedsrichter ist dabei, das schöne Spiel hinzurichten. „Tod durch Überregulierung“ wird auf dem Totenschein stehen. Es sei denn, die Fernsehvermarkter sprechen ein Machtwort und beenden den Spuk, denn diese Tendenz kann nicht in ihrem Sinne sein. – Traurig, auf die hoffen zu müssen, die nicht mit Leidenschaft, sondern nur durch Marketinginteressen mit dem Fußball verbunden sind.
Klaus Hansen. Foto: Jürgen Streich
Der Autor
Klaus Hansens Interessensgebiete reichen von A wie Anarchismus bis Z wie Zivilcourage. Ganz wichtig dazwischen: F wie Fußball. Diese Sportart beleuchtet er in seinem neuen Buch aus allen Richtungen. Dabei zeigen viele seiner Geschichten, Gedichte, Essays und Graphiken, wie sehr Fußball die Gesellschaft und den Zeitgeist abbildet – ob auf dem Platz, auf den Zuschauerrängen, außerhalb der Stadien und auch in den Medien. Bis hinein in die große Politik wirken die Vergaben und Inszenierungen internationaler Turniere.
Hansen, geboren 1948 in Pronsfeld in der Eifel, studierte Psychologie, Soziologie, Publizistik und Ethnologie an der Universität Münster und wurde 1977 zum Doktor phil. promoviert. Es folgten verschiedene Dozententätigkeiten, von 1992 bis 1996 war er Regierungsdirektor im Bundesministerium des Inneren. Anschließend übernahm er eine Professur für Politische Wissenschaften und Politische Bildung an der Hochschule Niederrhein Krefeld / Mönchengladbach.
Klaus Hansen wurde 2013 emeritiert und arbeitet seither ausschließlich als Publizist. 2017 erschien im Kölner Roland Reischl Verlag sein Buch „Soccer – Stories, Lyrics, Essays“ als eine von zahlreichen Veröffentlichungen.
Um die Fußballbegeisterung von Klaus Hansen zu beschreiben, eignet sich insbesondere eine Geschichte um den allerersten Spieltag der neuen Fußball-Bundesliga am Samstag, dem 24. August 1963: Damals brach der 15-jährige Klaus Hansen am Mittwoch zuvor mit dem Fahrrad in Duisburg auf, um drei Tage später rechtzeitig zum Anpfiff des Auswärtsspiels seinen geliebten MSV im Karlsruher Stadion zu sein. Überglücklich über dessen 4:1-Sieg auf des Gegners Platz – die Duisburger „Zebras“ landeten damit nach dem 1. FC Köln und Schalke 04 auf dem dritten Platz – kam er am darauffolgenden Dienstag wieder zu Hause an.