Vorwärts immer, rückwärts nimmer oder Go, Infantino, go!
Zur Fußball-WM 2026 in Mexiko, USA und Kanada
Von Klaus Hansen
Fußball ist der Weltsport Nummer eins. Sowohl als Aktiven- als auch als Zuschauersport. Aktive Kicker und fußballverrückte Couchpotatoes gibt es überall auf der Welt. Das Medium, das Fußball überträgt, kann darauf zählen, auf allen Kontinenten großen Zuspruch zu finden. Fußballübertragungen im Fernsehen sind seit langem der Quotenbringer schlechthin, nicht nur in Europa.
Das Bewerbungslogo von Mexiko, Kanada und den USA um die WM 2026.
Das große Produkt, das der Weltfußballverband FIFA zu verkaufen hat, sind Fußball-Weltmeisterschaften. Der Verkauf ihrer Übertragungs-, Marketing- und Lizenzrechte brachte der FIFA bei der WM 2022 in Katar knapp vier Milliarden US-Dollar ein. Bei der kommenden WM 2026 sollen es an die sieben Milliarden werden. Dazu vergrößert man das Teilnehmerfeld von 32 auf 48 Mannschaften und die Turnier-Dauer von 29 auf 40 Tage. Statt 64 sind 104 Spiele zu sehen.
Dass die FIFA geldgeil ist und ihre Bosse korrupt sind, ist keine Information, denn dafür fehlt der Neuigkeitswert. Für FIFA-Präsident Gianni Infantino hat die Ausweitung des Teilnehmerfeldes freilich nur moralisch astreine Motive: „Auch kleine Fußballländer sollen eine größere Chance bekommen, auf der ganz großen Fußballbühne mit dabei zu sein.“ Aber so weit, dass wir uns auf ein Sechzehntelfinale Vatikan gegen Biafra freuen dürfen, sind wir noch nicht. Denn auch das gibt es: Obwohl die FIFA mehr Mitgliedsverbände (211) als die UNO Mitgliedsstaaten hat (193), gibt es immer noch einige wenige Parias, die nicht zur FIFA gehören, der Vatikan und Biafra zählen dazu, leider. Denn elf Missbrauchspriester in kurzen Hosen wären eine folkloristische Attraktion und politische Provokation in einem. Da käme selbst die Fußballgemeinde auf andere Gedanken.
Was verkauft die FIFA eigentlich, wenn sie Fußballspiele verkauft? Sie verkauft eine besondere Faszination, die von einer eigentümlichen Spannung ausgeht, die es so bei anderen Spielen nicht gibt. (Warum ist der Kunde so spannungsbedürftig, könnte man fragen. Aber das ist eine andere Frage, die man auch den Millionen von täglichen Krimi-Zuschauern stellen kann, die ohne den am Mord- und Totschlag aufgehängten Thrill nicht auszukommen scheinen. Oder kommen sie nur deshalb nicht ohne den Mist aus, weil er ihnen täglich angeboten wird?)
Der wiedergewählte FIFA-Präsident Gianni Infantino. Foto: technisch24.com
Welche Spannung ist es denn, die das Fußballspiel für Abermillionen so anziehend macht?
Eine Leistungsspannung, wie sie die Leichtathletik auszeichnet, ist es nicht. Eine solche Spannung liegt vor, wenn ein Springer, Werfer oder Läufer versucht, einen bestehenden Rekord zu brechen. Die Zuschauer kennen die Marke und sind gespannt, ob der Athlet sie übertreffen kann oder nicht. Aber auch jeder gewöhnliche Wettlauf wird am Ende durch in Sekunden und Zentimetern messbare Leistungsüberlegenheit entschieden, nicht durch Zufall, ein taktisches Foul oder durch einen Maulwurfshügel in der Laufbahn.
Eine hollywoodreife Suspense-Spannung, wie sie Hitchcock meisterhaft zu inszenieren wusste, ist es auch nicht: Man sieht die brennende Lunte, die unter den Tisch führt, an dem viele Menschen sitzen, weiß aber nicht, wann und ob überhaupt etwas passieren wird.
Die Dramatik des Fußballspiels beruht auf einer anderen Art von Spannung, der so genannten Zufallsspannung. Unvorhergesehenes und Überraschendes ist jederzeit möglich und nicht berechenbar, weder durch die vorausplanenden Trainer noch durch die agierenden Spieler. Einem Fußballspiel zuzusehen bedeutet, nie zu wissen, bis zum Schlusspfiff nicht, ob der Höhepunkt schon da war oder erst noch kommen wird. Diese Zufallsspannung haben wir auch bei anderen Ballsportarten, aber beim Fußball ist sie am größten, weil er der einzige Sport ist, der die Beherrschung elastischer Kugeln nicht den Händen, sondern den Füßen anvertraut. Füße aber können viel weniger als Hände. Darum misslingen Zuspiele auf engstem Raum, leere Tore werden verfehlt, Elfmeter gehen in den Himmel und statt den Ball zu treffen, tritt man ein Loch in die Luft oder bleibt mit dem Fuß im Boden stecken. Selbst den Meisterspielern unterlaufen solche Böcke. Wetter und Bodenbeschaffenheit tun ein Übriges, um den Fußball unberechenbarer als alle Sportarten zu machen, die auf Parkett, unter Dach und mit der Hand gespielt werden. Zufall, Glück und Pech führen im Fußball ein einzigartiges Eigenleben. Dieses spezifische Spannungspotenzial des Fußballspiels ist sein Alleinstellungsmerkmal und größtes Kapital. Damit macht die FIFA ihre Profite.
„Die Liste der Absurditäten bei der FIFA wird immer länger.“
Da die Zuschauer aber nicht allein der besonderen Spannung des Fußballspiels verfallen sind, sondern viel mehr noch den Mannschaften, die es spielen, kommt bei Länderspielen und Länderspiel-Turnieren, wie es Europa- und Weltmeisterschaften sind, noch eine chauvinistische Parteilichkeit hinzu – „Steh auf, wenn du Deutscher bist!“ „Husch, husch, ab in den Busch!“ (gegen Nigeria) -, die die Fußballfaszination von der Kriminalfilmfaszination unterscheidet, obwohl beide von der Spannung leben.
2026 steht uns also nichts Gutes bevor. 104 chauvinistische „Tatorte“ an 40 aufeinanderfolgenden Tagen werden eher den Nationalisten in uns befördern als den kosmopolitischen Weltbürger, den die Welt so dringend nötig hätte. Auch ohne Trump, so ist zu befürchten, wird die mittel- und nordamerikanische WM ein Festival des geistigen Trumpismus.
Und 2026 ist nicht das Ende aller Tage, sondern vier Jahre vor 2030, dem Jubeljahr. Denn vor hundert Jahren, 1930 in Uruguay, hat alles angefangen. Die Kommerzialisierung des Berufsfußballs wird weitergehen. – Hier drei absehbare Entwicklungen:
Man wird das langweilige Unentschieden abschaffen und so lange spielen, bis ein Gewinner ermittelt ist. Es soll nur noch Sieger und Verlierer geben, aber keine friedlich-schiedlichen Punkteteiler mehr. Die mentale Militarisierung schreitet fort.
Man wird die Regel, dass die Zeit das Spiel bestimmt, durch die in den anderen großen Sportarten übliche Regel, dass das Spiel die Zeit bestimmt, ersetzen, um mehr „Nettospielzeit“ zu erwirtschaften.
Zu den jetzt schon auf und neben dem Platz üblichen sieben Regelhütern werden noch drei Zeitrichter hinzukommen, sodass die Schiedsrichter bald eine eigene Elf bilden und jedes Fußballmatch zu einem Spiel wird, das von drei Mannschaften und einem Anarchisten, dem Ball, bestritten wird.
Und irgendwann wird es auch an den Live-Zuschauern im Stadion an den Kragen gehen. Das große Geld kommt nicht von ihnen, sondern von den Fernsehzuschauern. Die Fünfzigausend im Stadion haben gegen die 50 Millionen an den Bildschirmen keine Chance. Live-Zuschauer machen nur Ärger und Kosten. Die gute Stimmung im Stadion, nach der der Fernsehzuschauer verlangt, lässt sich auch durch Bild- und Ton-Konserven herstellen, wie in der Corona-Zeit bewiesen. Auch eine Professionalisierung des Stadion-Zuschauers ist denkbar. Bezahlte Stimmungskomparsen gab es schon in Katar. Dem Profi-Claqueur gehört die Zukunft, nicht dem naiven Kutten-Fan von anno Tobak, der noch glaubte, seine Jungs würden für ihn spielen, für seine Stadt, für sein Land – und nicht für Geld.
Gianni Infantino hat noch viel Arbeit vor sich!
Foto: J. Streich
Über den Autor
Klaus Hansens Interessensgebiete reichen von A wie Anarchismus bis Z wie Zivilcourage. Ganz wichtig dazwischen: F wie Fußball. Diese Sportart beleuchtet er in seinem neuen Buch aus allen Richtungen. Dabei zeigen viele seiner Geschichten, Gedichte, Essays und Graphiken, wie sehr Fußball die Gesellschaft und den Zeitgeist abbildet – ob auf dem Platz, auf den Zuschauerrängen, außerhalb der Stadien und auch in den Medien. Bis hinein in die große Politik wirken die Vergaben und Inszenierungen internationaler Turniere.
Hansen, geboren 1948 in Pronsfeld in der Eifel, studierte Psychologie, Soziologie, Publizistik und Ethnologie an der Universität Münster und wurde 1977 zum Doktor phil. promoviert. Es folgten verschiedene Dozententätigkeiten, von 1992 bis 1996 war er Regierungsdirektor im Bundesministerium des Inneren. Anschließend übernahm er eine Professur für Politische Wissenschaften und Politische Bildung an der Hochschule Niederrhein Krefeld / Mönchengladbach.
Klaus Hansen wurde 2013 emeritiert und arbeitet seither ausschließlich als Publizist. 2017 erschien im Kölner Roland Reischl Verlag sein Buch „Soccer – Stories, Lyrics, Essays“ als eine von zahlreichen Veröffentlichungen.
Hansen, geboren 1948 in Pronsfeld in der Eifel, studierte Psychologie, Soziologie, Publizistik und Ethnologie an der Universität Münster und wurde 1977 zum Doktor phil. promoviert. Es folgten verschiedene Dozententätigkeiten, von 1992 bis 1996 war er Regierungsdirektor im Bundesministerium des Inneren. Anschließend übernahm er eine Professur für Politische Wissenschaften und Politische Bildung an der Hochschule Niederrhein Krefeld / Mönchengladbach.
Klaus Hansen wurde 2013 emeritiert und arbeitet seither ausschließlich als Publizist. 2017 erschien im Kölner Roland Reischl Verlag sein Buch „Soccer – Stories, Lyrics, Essays“ als eine von zahlreichen Veröffentlichungen.