Joachim Meyerhoff: „Ach, diese Lücke…“

Joachim Meyerhoff: „Ach, diese Lücke…“

Eine Buchvorstellung von Maria T. Segschneider

In seinem sehr empfehlenswerten Roman malt sich der zwanzigjährige Erzähler aus gutem Elternhaus nach einem Austauschjahr in Amerika voller Vorfreude seinen Zivildienst aus. Besonders die Nächte im Schwesternwohnheim beflügeln seine Phantasie. Doch es kommt anders. Aus einer Laune heraus hat er sich an der Schauspielschule in München beworben und besteht, trotz schlechter Vorbereitung, die Aufnahmeprüfung. Er gerät, selbst höchst erstaunt, in die engere Wahl und wird angenommen, trotz Zweifeln der Jury. Diese potenzieren sich mit seinen eigenen Bedenken. Trotz gemischter Gefühle fiebert er dem Start entgegen.

Hier schöpft der 1967 in Homburg an der Saar geborene Autor, der seit 2005 Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater ist, aus seinen eigenen Erfahrungen und beschreibt seinen ersten Tag an der Schauspielschule geradezu schillernd. Beginnend mit dem Blickduell am Morgen gipfelt er in der menschlichen Maschine, die alle Schauspielschüler ratternd, stampfend, pfeifend, sich immer schneller bewegend, darstellen sollen.

„Das war ein großartiges, wildes Ungetüm, was ihr da gebaut habt“, werden er und seine Mitschüler gelobt. Doch über Sprecherziehung, Interaktion und Aikido hinaus bleibt der groß gewachsene, kahlgeschorene Protagonist abseits der Gruppe und erfüllt von Selbstzweifeln. „So habe ich gleich in meiner ersten Aufführung das getan, was eine meiner ganz großen Stärken werden sollte: mich auf offener Bühne verstecken.“

Maria T. Segschneider ist 1959 in Bergheim geboren, studierte Deutsch und Kunst, arbeitete im elterlichen Gerüstbaubetrieb mit und wandte sie sich intensiv der Malerei zu. Ihre Bilder zeigen Details von Blüten ebenso wie heimische Landschaften und Tiere, aber auch Frauenbildnisse in vielseitiger Weise. Seit 1992 stellt sie aus.2016 begann Maria Segschneider, mit erwachsenen Behinderten der Gold-Kraemer-Stiftung in Frechen zu malen und wurde im gleichen Jahr Mitglied des Literaturkreises „Frechener Schreibstoff“. Inzwischen wohnt sie mit ihrem Lebensgefährten in einem Haus in Bergheim-Glessen, über dessen Entstehung sie das Buch „Frau baut Haus – Lebenstheater kurz vor 60 für die Liebe“ geschrieben hat. (Foto: Jürgen Streich)

Erst in ein langes, enges Paillettenkleid gewandet mit hohen Schuhen und einer Federboa findet er bei einer Kostümversteigerung am Tag der offenen Tür findet zu sich. Als Leser atmen wir hörbar durch. Ebenso wie der Erzähler: „Ich hatte einen ganz anderen Radius. Mein Kopf schwang gut geölt ohne Gelenkblockaden nach links und rechts, ich fühlte mich elegant und würdevoll.“

An einem gemeinsam mit der Großmutter geplanten Filmprojekt versagt er jedoch kläglich und kollabiert unter Schminke und Perücke.

Zuflucht findet er von Beginn an im hoch herrschaftlichen Haus seiner Großeltern in Nymphenburg. Seine Großmutter war selbst Schauspielerin, eine wahre Diva, die sogar alltägliche Szenen zu etwas Besonderem zu stilisieren wusste. Sie spielt sich selbst. Immer, in einer ständigen Inszenierung. Und diese ereignet sich in einer ganz eigenen, abgeschotteten Welt, fernab der Realität. Aber sie funktioniert, Tag für Tag.

Ihr Mann, ein emeritierter Professor der Philosphie, schwerhörig und ordnungsliebend, der peinlich genau alles dokumentiert, katalogisiert und abheftet, liebt sie in einer unbeschreiblichen, hinreißenden, sie nahezu vergötternden Art, Abhängigkeit und Bewunderung, wenn sie sagt: „ Mooooahhh…“ und dann, nach einer langen, spannungsgeladenen Pause, „der Brie ist ja ein Gedicht heute Abend!“

Der Tagesablauf der beiden ist streng strukturiert, beinahe ritualisiert. Zu festen Uhrzeiten und mit flüssigen Freuden. Der Morgen beginnt mit Champagner, mittags folgt Wein, ein Höhepunkt des Tagesablaufes ist der Punkt 18 Uhr auf die Sekunde genau servierte Whisky. Es gibt Rotwein und Coitreau, selbst die vom Apotheker gemixten Gurgellösungen bestehen aus hochprozentigem Enzian, wie der Enkel herausfindet. Die Fotoalben aller Urlaube in immer demselben Domizil über viele Jahre hinweg zeigen nahezu identische Aufnahmen. Die Orte bleiben, der Hosenanzug und die Position des Fotografen ebenso.

Alterslos raucht und trinkt die Diva, genügt sich selbst, rezitiert sehr zur Freude ihrer beiden Bewunderer spontan aus Effi Briest. Nennt ihren Enkel „Lieberling“ und ihren Mann, der eigentlich Hermann heißt, „Fridolin“. Einen vermissten Ring findet sie nach einer lächerlich geringen Spende für den Heiligen Antonius mit einer Sicherheit wieder, die die Leser verwirrt den Kopf schütteln lässt.

Im ganzen Haus darf nichts verstellt oder an einen anderen Ort verrückt werden, auch nicht im rosa Zimmer des werdenden Schauspielers. Alles hat über Jahrzehnte an seinem Platz zu bleiben. Bizarr erscheint dieses fest gezurrte, Sicherheit schenkende, aber der Realität ferne Dasein. Der Protagonist kommentiert: „Und so begann ich denn ein neues Leben: Als erwachsener Enkel im Haus meiner Großeltern und als staunender Anfänger auf der Schauspielschule.“

Dieser Spagat, diese Zerreißprobe des jungen Mannes zwischen den Anforderungen während seiner Ausbildung werden abgefedert in der „allabendliche(n), butterweiche(n) Landung im Großelternhaus. Wie sehr ich das brauchte!“

Joachim Meyerhoffs Sprache ist ein Genuss in einem Fünf-Gänge-Menü, mit dem erfrischenden Zitronensorbet mittendrin. Als Leser sitzt man mit den edlen Großeltern, wohl gekleidet und frisiert mitten im Wohnzimmer, alles ist Dunhill-menthol verqualmt, der Whisky steht dort, natürlich in einer Karaffe mit den Gläsern. Chanté! Auf das Leben!

Joachim Meyerhoff, „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2015


LESEPROBE

Nie, in keiner meiner Improvisationen, in keiner meiner Rollenarbeiten hatte ich mich je auch nur so wohl gefühlt. Während ich mich vor dem Spiegel drehte, drang die Beschaffenheit des herrlichen Kleides, der hohen Schuhe, der wehenden Boa tief in mich hinein und verwandelte mich. Zum ersten Mal fühlte ich mich wie ein anderer. (…) Plötzlich war da ein totales Glücksgefühl. Immer hatte ich mich kleiner gewünscht, auf Augenhöhe der anderen, doch jetzt, in diesem silbergleißenden Kleid, war ich stolz ein schimmernder Paillettenriese zu sein.

Ich war mit kurzrasiertem Schädel auf die Schauspielschule gekommen, hatte dann aber schnell begriffen, dass ich so viel Markantheit bei Weitem nicht zu rechtfertigen vermochte und mir die Haare wachsen lassen. Da ich meine Locken nicht mochte, trug ich sie streng zurückgegelt. Diese angedatschte Frisur, dieser ölige Helm drückte mich plötzlich und mit ein paar wilden Strubbelbewegungen zerwühlte ich meine Haare. Das Kleid, das fühlte ich, wollte, dass man die Dinge gleich tat, seinen Launen nachgab und nicht lange abwog.

(…) Tagsüber ging es die Stromschnellen hinab, waghalsig zwischen Steinen und Strudeln hindurch, immer kurz vor dem Kentern, kurz vor der endgültigen Karambolage, aber abends wurde ich hinaus auf den stillen See gespült, saß gebeutelt, aber am Leben im Großelternsofa und kippte mir den Whisky rein.

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