Erstes Buch von Christian Gierend – ein großer Wurf
Nichts mehr so, wie es war
Von Jürgen Streich
Christian Gierend, der bisher erst Kurzgeschichten in kleinerem Rahmen veröffentlicht hat, ist gleich mit seiner ersten Buchpublikation „Das Haus der verwunschenen Kinder“ ein großer Wurf gelungen. Als Jugendbuch konzipiert ist es auch für Erwachsene gut lesbar. Es fesselt einen von Beginn an und ist von der ersten bis zur letzten Zeile sehr spannend. Ein ganz besonderer Aspekt an dem hervorragend umgesetzten Plot ist der, dass sämtliche sparsam eingestreuten Mystery-Passagen sich zum Schluss als ganz reales Geschehen herausstellen, sie also völlig ohne parapsychologischen Hintergrund erklärbar und wesentlicher Teil der Auflösung sind.
Die Hauptprotagonistin ist Isabell, ein 16-jähriges Mädchen aus Dortmund, das aus Geldknappheit der Mutter seine Sommerferien noch nie woanders verbracht hat, als bei ihren Großeltern im Bayrischen Wald. Während sie speziell zu ihrem Großvater, der sie viel kritisiert und für alles mögliche als Schuldige ausmacht, ein kritisches Verhältnis hat, ist Isabell in der Kleinstadt gut vernetzt. Das hat insbesondere mit ihrer Freundin Anja, die Isabell oft mit nach Hause nimmt und auch in die örtliche Jugendszene einführt, zu tun. So lernt sie auch Moritz kennen, der sich in einer Ausbildung befindet und im Haus seiner Eltern bereits eine eigene Wohnung hat. Auf einem ihrer Streifzüge durch die Gegend stoßen sie auf das Denkmal eines vor zehn Jahren verschwundenen kleinen Mädchens. Durch Nachfragen erfahren sie, dass damals noch zwei weitere Kinder aus dem Ort von einem Augenblick zum anderen nicht mehr da waren. Doch niemand will so richtig darüber reden.
Da Moritz Motorrad fährt, zeigt er Isabell auch die weitere Umgebung. Bei einem dieser Ausflüge in eine Klamm stürzt sie und hat, nicht zum ersten Mal, einen merkwürdigen Traum. Oder ist es mehr als nur ein Traum? Als sie bald darauf genesen ist, zieht sie irgendetwas zurück in diese Klamm, in der sie sich beim ersten Besuch nicht gerade wohl gefühlt hatte. Moritz, Anja und deren Freund erklären sich bereit, sie dorthin zu begleiten. Isabell will trotz schwierigen Geländes immer weiter und weiter, bis die jungen Leute einen alten, verlassenen Stollen finden. Und darin eine Leiche, die schon lange dort liegen muss. Noch vor Eintreffen der Polizei steckt Isabell einen Kettenanhänger, den sie in der Nähe der Leiche findet, in die Tasche ihrer Jeans.
Um Isabell aufgrund dieser Unterschlagung nicht selbst in den Kreis derjenigen, die irgendetwas mit dem Ableben der, wie Untersuchungen inzwischen ergeben haben, weiblichen Toten, zu bringen, beginnen das Mädchen und Moritz auf eigene Faust zu recherchieren. Während die beiden von einer Ungereimtheit auf die nächste und an abgelegenen und eher abschreckenden Höfen und Häusern auf seltsam abweisende Menschen stoßen, geschehen immer mehr merkwürdige Dinge, die offenbar miteinander zusammmenhängen. Manche davon schneiden tief in Isabells bisheriges und momentanes Leben ein. Als sich die Dinge überschlagen, ihr immer wieder dieselbe Figur im Traum erscheint und sie ihre Rolle bei den Ereignissen hinterfragt, verliert sie zeitweise die Kontrolle, wird sogar von der Polizei aufgegriffen. Isabell hält sich inzwischen für schuldig an mancher üblen Entwicklung. Zu all dem trachtet ihr jemand, der kein Interesse daran hat, dass die Wahrheit ans Licht kommt, nach dem Leben.
Doch als Isabell und Moritz ein kleines Puzzlestück, das sie lange nicht richtig einzuordnen vermochten, in den richtigen Zusammenhang bringen können, offenbart sich das Gesamtbild des Geschehens vor zehn Jahren bis in die Gegenwart. Von da an ist nichts in Isabells Leben mehr so, wie zuvor. Nicht einmal Isabell heißt sie wirklich.
Der Autor Christian Gierend präsentiert sich in „Das Haus der verwunschenen Kinder“ (aber auch in anderen Texten) als Erzähler, der die Leserinnen und Leser mitnimmt an die Orte, an denen die Handlung spielt, und so mitten ins Geschehen zieht. Wenn er beispielsweise eine düstere Klamm, einen alten Bergwerksstollen oder ein scheinbar verlassenes und bald darauf abgebranntes Haus, das die jugendlichen Protagonisten inspizieren, beschreibt, fühlt man sich als Beobachter mit dabei, überträgt sich mancher Nervenkitzel ebenso, wie das ein oder andere Aufatmen, auf einen selbst. Auch dass, wie der Hybrid Verlag in Gierends Vita betont, er sich „die Lust auf das Entdecken rätselhafter Welten und deren Geschichten bewahrt“ hat, spürt man deutlich.
„Das Haus der verwunschenen Kinder“ macht Lust auf mehr aus der Feder von Christian Gierend.
Christian Gierend, Das Haus der verwunschenen Kinder. Hybrid Verlag, Homburg, 2023. 384 Seiten, 19,90 €
Der Autor Christian Gierend. Foto: Axel Walbröhl
Christian Gierend, geb. 1965, studierte Elektrotechnik, arbeitet als Ingenieur und lebt mit seiner Familie, zu der auch der Hund Kalle gehört, in Hürth bei Köln. Als Kind faszinierte ihn die Geschichte von „Alice hinter dem Spiegeln“ und er versuchte im elterlichen Badezimmer zu ermitteln, welche Abenteuer sich hinter dem Glas verbergen. Schon als Jugendlicher verfasste er Kurzgeschichten aus den Bereichen Phantastik und Mystery, von denen manche auch veröffentlicht wurden. Seit einigen Jahren gehört Christian Gierend dem Literaturkreis „Frechener Schreibstoff“ an.