„Ein Roman wie eine Naturgewalt“
Shelley Reads Premiere als Schriftstellerin ist ein ganz besonderes Buch
„Ein Roman wie eine Naturgewalt.“ Diese Aussage der Schriftstellerin Bonnie Garmus über das Debut von Shelley Read mit „So weit der Fluss uns trägt“ trifft es ziemlich genau. Deshalb haben die Verlage sie in der deutschen Ausgabe auch ganz oben auf die Titelseite genommen. Kaum zu glauben, dass „So weit der Fluss uns trägt“ Reads Erstlingswerk ist, so fesselnd, mitreißend und stilistisch toll ist es geschrieben. Es ist ein Buch, das anrührt, eines, das einen nach der Lektüre noch lange beschäftigt.

„So weit der Fluss uns trägt“ von Shelley Read ist ein „Must Read“, ein Buch, das man gelesen haben muss.
Shelley Read, die Mutter zweier erwachsener Kinder ist, mit ihrem Mann in 3.000 Metern Höhe in den Elk Mountains in den östlichen Rocky Mountains Colorados lebt und über 30 Jahre Professorin für Literatur, Philosophie und Umweltstudien war, schreibt zum Schluss ihres Prologes: „Die Landschaften unserer Jugend erschaffen uns, und wir tragen sie in uns. Alles, was sie uns gegeben und genommen haben, ist in der Person eingeschrieben, zu der wir herangewachsen sind.“ Diesen Geist merkt man dem Buch von der ersten bis zur letzten Zeile an.
Es geht darin um die Geschichte von Victoria, die im Alter von zwölf Jahren durch einen Autounfall ihre Mutter, eine Tante und einen Cousin verloren hat und mit ihrem Vater und ihrem Bruder auf einer Pfirsichfarm am Gunnison River lebt. Torie, wie sie am liebsten genannt wird, hat dort sämtliche häuslichen Arbeiten übernommen und hilft bei Ernte und Verkauf der Früchte in der nahe gelegenen Kleinstadt Iola, während ihr Bruder Seth bereits im Kindesalter eher zum Kaputtmachen als zum Aufbauen neigt. Im Kreise seiner Freunde entwickelt er sich zum schnell zuschlagenden Rassisten.
Tories Leben verändert sich völlig, als sie, inzwischen 17 Jahre alt, in Iola Will trifft. Sie muss ihr baldiges Liebesverhältnis mit ihm geheim halten. Als sie eine Schwangerschaft kaum noch verbergen kann, flieht sie in die Wildnis, um dort ihr Kind zu gebären. Bald sieht sie ein, dass sie es in der rauen Umgebung kaum ernähren kann und trifft daher eine schwerwiegende Entscheidung.
Obwohl Torie mehr eine Einzelgängerin ist, vermittelt die Autorin durch sie nachdenkenswerte Aspekte zum Wert von Freundschaften, auch zu solchen mit Tieren. Als Leser spürt man bei den schweren Schicksalsschlägen, die Torie treffen, förmlich, wie diese Frau aus ihrer landschaftlichen, häuslichen und menschlichen Umgebung die Kraft zieht, die sie braucht, um die Tragödien durchzustehen und Neues aufzubauen und zu gestalten. Das trifft auch auf den sehr außergewöhnlichen Kontakt zu, den Torie zu einer ihr unbekannten Frau hält. Ein wesentlicher Teil des Lebens der beiden verbindet sie miteinander.


Shelley Read dort, wo sie am liebsten ist: in freier Natur.
Bei der Suche nach Kritikpunkten an „So weit der Fluss uns trägt“ wird man kaum fündig. Vielleicht trifft Torie eine stark lebensverändernde Entscheidung, die eigentlich längere Zeit in ihr gereift sein musste, im Buch ziemlich spontan, beinahe reflexhaft. Aber auch das ist glaubhaft, da sich ihr in der entsprechenden Situation eine Möglichkeit ebenso plötzlich bietet. Außerdem kann man anmerken, dass der Inhalt eines langen Briefes, den Torie eines Tages erhält, in dem gleichen – guten! – Stil geschrieben ist, wie dem, mit dem Torie ihr Leben erzählt. Eine Sache, zu der auch viele andere Schriftsteller neigen, sobald sich mehrere Leute miteinander austauschen.

Die Landschaft in den östlichen Rocky Mountains in West-Colorado, in der Shelley Read lebt und auch die Romanhandlung angesiedelt hat.
Das Buch „So weit der Fluss uns trägt“ hat an vielen Stellen einen hohen Feuchte-Augen-Faktor. Doch verdrückt man als sensibler Leser, sensible Leserin nicht nur da Tränen, wo man mit Torie leidet, sondern auch an den vielen Stellen, an denen ihr etwas gelingt, sie sich dann auch gerne mit anderen freut.
Dieses besondere Buch hat naturgemäß auch einen besonderen Schluss. Lange zuvor befürchtet man eine finale Katastrophe, die in der Zeit, in der die Geschichte zuende geht, 1971, keineswegs unwahrscheinlich gewesen wäre. Doch dazu kommt es nicht. Das Buch endet so, dass man sich als Leserin oder Leser geradezu genötigt sieht, es weiterzudenken. Denn bei Tories Schicksalsschlägen und Höhen und Tiefen kommt nie die Hoffnung zu kurz. Im Gegenteil. Sie bildet immer wieder das Lebenselixier, das nötig ist, um den Silberstreif am Horizont nie aus den Augen zu verlieren.
Shelley Reads lange Danksagung endet so: „Mögen wir das Land und uns gegenseitig wertschätzen, zu Ehren von allen, die vor uns da waren und nach uns kommen werden.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Jürgen Streich

Shelley Read, So weit der Fluss uns trägt. Gebundene Ausgabe 2023 erschienen bei C. Bertelsmann, Gütersloh. 364 Seiten, 24 € Hörbuch 24 €, E-Book 10,99 €
Taschenbuchausgabe erschienen bei Pinguin Books, London / Köln, 14 €
Sehr empfehlenswert ist dieses (Link hier) knapp fünfminütige Video mit und über Shelley Read.