„Journalismus-Glücksfall“ schreibt über „Politik-Verhängnis“
Eine Buchvorstellung von Christian Rannenberg
Robert Misik ist ein großer Glücksfall für den politischen Journalismus. Er hat die Gabe, komplizierte Zusammenhänge so darzustellen, dass sie leicht verständlich sind, ohne unzulässig zu vereinfachen. Ich erinnere mich an sein Buch „Marx für Eilige“, das vor etwa zwanzig Jahren herauskam. Wer dies liest versteht mehr von Karl Marx und seiner Welt als viele derer, die sich mühsam durch zahlreiche Seminare zu diesem Thema gekämpft haben. Eine solche Herangehensweise setzt große Belesenheit voraus und die Fähigkeit, das Wesentliche herauszuarbeiten, sich nicht im Klein-Klein zu verzetteln.
Nun hat Misik das Buch „Putin Ein Verhängnis“ veröffentlicht. Er hätte es auch „Putin für Eilige“ nennen können. Grundlage dieses Buches ist intensives Quellenstudium, also eine vergleichbare Herangehensweise wie in seinem eingangs erwähnten Werk.
Misik betreibt den Blog, „Putin verstehen“, und sein Buch ist in wesentlichen Teilen aus Einträgen in diesem Blog zusammengesetzt. Dadurch ergibt sich, dass sich jedes Kapitel als abgeschlossene Einheit lesen lässt, das Leseerlebnis wird leichter strukturierbar.
Dennoch bietet Misik in „Putin – Ein Verhängnis“ nicht etwa zusammenhanglose Informationshäppchen an, sondern er beleuchtet in jedem Kapitel einen Aspekt des Systems Putin unter unterschiedlichen Aspekten. Wladimir Putins persönlichen Werdegang, seine politische Rolle im Russland der „Nach-Wendezeit“, seine Verwurzelung in Peterburger Strukturen, seine Einbettung in Geheimdienst-Seilschaften, die den Untergang der UdSSR erstaunlich unbeschadet überdauert hatten und ihn wohl schon während der Jelzin-Ära auf Schlüsselpositionen in Moskau platziert hatten.
Das geschah von der Öffentlichkeit einigermaßen unbemerkt, denn eine von Putins hervorstechenden Eigenschaften ist, so paradox das auch klingen mag, seine Unauffälligkeit. Er hat, wie Misik anekdotisch schreibt, die Fähigkeit, in einer Menge von zwei Leuten unterzutauchen.
Der Wiener Journalist, Blogger und Buchautor Robert Misik. (Screenshot aus Videomitschnitt)
Ein in meinen Augen sehr wichtiges Kapitel beleuchtet den ideologischen Rahmen, innerhalb dessen Putin sich bewegt und der seine Weltsicht prägt. Man findet dort radikale Konservative mit Schlagseite zum Faschismus, und, gewissermaßen als Urvater, den Erfinder der Ideologie des Eurasismus, Iwan Iljin. Ein Anhänger der „Weißen“, also der Zaristen, und Bewunderer Hitlers, Francos und Mussolinis. Unter Putin erlebten seine Ideen eine Renaissance. So bezieht der russische Präsident sich in Reden und Veröffentlichungen immer wieder auf ihn. Misik widmet ihm ein ganzes Kapitel.
Gerade für Linke ist dieses Buch Pflichtlektüre, denn viel zu oft findet man unter ihnen Menschen, die alles Übel dieser Welt dem Einfluss der USA zuschreiben und Putin zum Antiimperialisten stilisieren. Diese dem Kalten Krieg geschuldete Sichtweise nutzt Putins Propaganda gewieft aus und stellt Russland letztlich als Opfer amerikanischer Aggression und den Ukrainekrieg als einen Akt der Verteidigung dar. Die klassische Täter-Opfer-Umkehr faschistischer Systeme. Aber um das zu durchschauen, benötigt man Informationen, die einem Großteil der deutschsprachigen Beobachter fehlen, aus welchen Gründen auch immer.
Misik liefert nun nicht nur manche dieser fehlenden Informationen, sondern weist auch auf einige gewichtige Quellen hin, die allen zu empfehlen sind, die tiefer in die Materie eindringen wollen. Was absolut ratsam ist.
Besonders hervorstechend ist hier Catherine Beltons „Putins Netz“. Belton hat als langjährige Moskau-Korrspondentin der Financial Times seit den 90-er Jahren zahlreiche Beziehungen zu Mitgliedern der russischen Nomenklatura, der „Jelzin-Oligarchen“, des organisierten Verbrechens, aber auch der Opposition aufgebaut, was ihr ermöglichte, das wohl bisher profundeste Werk über Putins System zu schreiben. Es ist relativ schwer lesbar, ähnlich wie ein Dostojewski-Roman, es wimmelt von Namen, die man erst einmal in ein Raster einordnen muss. Ich habe das Buch vor dem Misiks gelesen und war dankbar überrascht, wie Misik Beltons gewaltige Fülle an Informationen in seinem Werk in eine entschieden leichter verständliche Form gebracht hat und sie damit auch dem eiligen Leser in ihren Grundzügen erschlossen hat.
Wer nicht ganz so eilig ist, der kann „Putin – Ein Verhängnis“ als Anstoß zur Vertiefung betrachten. Robert Misik sei Dank dafür.
Robert Misik, Putin – Ein Verhängnis. Picus Verlag Wien, 2022. 176 Seiten, 20 Euro, E-Book 14,99 Euro
Der Rezensent
Christian Rannenberg, geb. am 21. Juni 1956 in Solingen, lernte 1976 während seines Biologiestudiums in Osnabrück Todor „Toscho“ Todorovic kennen und gründete mit ihm die „Christian Rannenbergs Bluesband“, die sie bald in „Blues Company“ umbenannten. Rannenberg spielte auch mit der Bluesband „Das Dritte Ohr“, die u. a. den Chicago Blues-Gitarristen Eddie Clearwater begleitete zusammen.
1982 siedelte er in die USA über und spielte mit dortigen Größen der Blues-Boogie-Szene zusammen. Zu hören ist er außer auf seinen eigenen Alben auch auf Tonträgern von Lousiana Red, Toscho, der „Blues Company“, der „First Class Blues Band“ sowie der „Matchbox Blues Band“. 2013 wurde Christian Rannenberg mit den angesehenen„Pinetop Boogie Woogie Award“ als Bluespianist ausgezeichnet. Der renommierte Musikautor und -historiker Jürgen Wölfer befand, er sei der „Nestor der deutschen Blues- und Boogie-Pianisten“.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland Anfang der neunziger Jahre gründete Rannenberg in Osnabrück, in dessen Nähe er lebt, eine bis heute beliebte Jam-Reihe in der „Lagerhalle“.
Foto: JS
Wenn Christian Rannenberg nicht gerade auftritt oder dafür probt, sondern während der An- und Rückreisen in Zügen sitzt oder Zeit in Hotels verbringt, liest er aktuelle Zeitungen und Zeitschriften sowie politische Sachbücher, analysiert die Texte und bemüht sich, seine Erkenntnisse so gut wie möglich im täglichen Leben in seinem Umfeld umzusetzen.