Sahra Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“
Das Vorab-Parteiprogramm: Als Wegweiser in die Zukunft völlig ungeeignet
Von Christian Rannenberg
Nun ist es also endlich so weit. Sahra Wagenknecht macht ihr drohendes Versprechen wahr und gründet ihre eigene Partei. Höchste Zeit, sich endlich mit ihrem Buch zu beschäftigen, wenn man wissen möchte, was sie eigentlich will. Schließlich ist ziemlich sicher davon auszugehen, dass „Die Selbstgerechten“ das Programm dieser Partei sein wird. Der Untertitel lautet ja „Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“. Also habe ich mich daran gemacht, dieses Werk zu lesen.
Sahra Wagenknechts Buch: Als Wahlprogramm völlig ungeeignet.
Es war mühsam. Und viel klüger bin ich jetzt auch nicht.
Mehr als die erste Hälfte, beinahe zwei Drittel ihres Werkes, überschrieben mit „Die gespaltene Gesellschaft und ihre Freunde“, verwendet sie darauf, sich an ihrem selbstgewählten Hauptgegner abzuarbeiten. Man sollte jetzt annehmen, das sei, wie es sich für eine Linke gehört, das kapitalistische Wirtschaftssystem oder zumindest seine Auswüchse. Aber weit gefehlt. Es sind die Linksliberalen. Wobei sie darauf hinweist, daß ihre Definition des Linksliberalismus sich nicht mit der anerkannten, gängigen deckt. Aber was genau ist diese ihre Definition? Ich bin da aus ihren Ausführungen nicht schlau geworden und stehe etwas ratlos vor einer Ansammlung von Schlagworten, von denen „Lifestyle-Linke“ wohl von ihr erfunden wurde und Eingang in den politischen Sprachgebrauch gefunden hat. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass sie eigentlich alles, was sie nicht mag, unter Linksliberalismus zusammenfasst, und so werden dann in ihrem Buch auch Leute wie Maggie Thatcher mit dieser Zuordnung beglückt.
Sicherlich, es ist immer schon, solange ich denken kann, ein Kennzeichen der Linken gewesen, den Hauptgegner im eigenen Lager zu verorten, sich in Grabenkämpfen aufzureiben und darüber das, wofür eigentlich zu kämpfen die Aufgabe wäre, völlig aus den Augen zu verlieren, aber bei Sahra Wagenknecht gewinnt dieser Kampf im eigenen Lager eine neue Qualität. Nämlich die eines Kulturkampfes mit stark reaktionären Zügen. Der Erste parlamentarische Geschjäftsführer der Linken im Bundestag, Jan Korte, nennt es reaktionäres Tourette.
Wenn ich ihre Ausführungen richtig deute, dann sind es die Globalisten, was immer man sich darunter vorstellen möchte, im Verein mit den Linksliberalen, siehe oben, die die wärmende, kuschelige deutsche Arbeiterkultur zerstört haben. Dies wird als Elitenprojekt beschrieben, und die weltweite Massenmigration sei Teil dieses Projektes. Sie geht da so weit, die Anwerbung von so genannten Gastarbeitern in der „alten“ Bundesrepublik mit der aktuellen irregulären Massenmigration gleichzusetzen und schreibt: „Immerhin 2,5 Millionen sogenannte Gastarbeiter arbeiteten in Deutschland, als der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt 1973 diese Politik mit einem kompletten Anwerbestopp beendete. In der heutigen SPD würde er dafür wohl als AfD-nah angegiftet.“
Solche Sätze, und es gibt viele dieser Art in ihrem Buch, machen fassungslos. Sie schließen nahtlos an die Erzählung im rechten Milieu an, Flucht und Vertreibung als ein von den globalistischen Eliten, eine antisemitische Chiffre, was ihr hoffentlich gar nicht klar ist, gesteuertes Projekt, welches die Aufgabe hätte, die abendländische Identität zu zerstören und die Löhne zu drücken.
Ja, die abendländisch-proletarische Identität. Frau Wagenknecht singt aus vollem Halse das Hohelied der Bundesrepublik der fünfziger bis siebziger Jahre, als die Schornsteine noch rauchten, ohne dass das ausgestoßene Kohlendioxid besteuert wurde, das Bildungssystem angeblich noch durchlässig war und die Industriearbeiter noch alle gewerkschaftlich organisiert. Es muss das reine Paradies gewesen sein. Ein Paradies, das sie als DDR-Kind natürlich nicht erleben konnte und deshalb nur vom Hörensagen kennt. Es deckt sich mit der Erzählung, die ich in den siebziger und achtziger Jahren, als ich zuerst aus familiären und dann beruflichen Gründen öfters in der DDR unterwegs war, oft vernommen habe. Der Erzählung, dass ich aus dem Land käme, in dem Milch und Honig flössen. Was ich über die tatsächliche bundesrepublikanische Wirklichkeit zu erzählen hatte, interessierte eigentlich gar nicht. Man wollte sich die rosarote Illusion nicht zerstören lassen.
Und so ergeht sich Frau Wagenknecht im Lob auf eine Vergangenheit, die es eigentlich nie gegeben hat und idealisiert den rheinischen Kapitalismus und die soziale Marktwirtschaft. Erstaunlich für eine Frau, die nach der Wende vom „Spiegel“ und anderen Publikationen zum erzkommunistischen Gottseibeiuns stilisiert wurde.
Natürlich ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad der abhängig Beschäftigten seit den späten achtziger Jahren dramatisch zurückgegangen. Frau Wagenknecht führt das aber nicht etwa darauf zurück, dass das „klassische“ Industriearbeitermillieu, das ich als junger Mensch noch kannte, nicht mehr oder kaum noch existiert, sondern sie macht auch hierfür die Einwanderer verantwortlich, weil die ja nicht gewerkschaftlich organisiert seien und deswegen eine Lohndrückerfunktion hätten. Dass deutsche Lohnabhängige die Gewerkschaften damals in Scharen verließen, blendet sie völlig aus und drückt sich so um die Analyse, warum das alles so war. Und was die von ihr behaupteten Aufstiegschancen von Arbeiterkindern in der alten Bundesrepublik angeht, so hat sie sich wohl noch nicht so richtig mit dem „bewährten dreigliedrigen Schulsystem“ beschäftigt, das immer noch die Dreiklassengesellschaft der Kaiserzeit abbildete.
Schuld sind auf jeden Fall, wie immer, die linksliberalen Lifestyle-Linken, die mit den Menschen, die hart malochten, keinerlei Kontakt mehr hätten, in ihren Elfenbeintürmen Austern schlürften und sich dem Gendergaga hingäben. Das von einer Frau, die selbst dem guten Leben zugeneigt ist und eng mit Diether Dehm zusammenarbeitet, der gerade der „Zeit“ ein Interview gab, telefonisch aus seinem Haus in der Toscana.
Ich bin für das gute Leben immer zu haben und würde über niemandem den Stab brechen, der das ebenfalls ist, bin aber höchst allergisch gegen Heuchelei. Merkt Frau Wagenknecht denn diesen Widerspruch gar nicht? Fast könnte man glauben, ihr Buchtitel „Die Selbstgerechten“ sei eine Selbstbeschreibung.
Über das letzte Drittel ihres Buches, überschrieben mit „Ein Programm für Gemeinsamkeit, Zusammenarbeit und Wohlstand“, lässt sich eigentlich gar nicht viel schreiben. Es ist erstaunlich brav-sozialdemokratisch-keynesianistisch, gewürzt mit dem Lob des Nationalstaates und einer kleinen Prise Fremdenfeindlichkeit. Also nichts, was man bei der SPD, dem Arbeitnehmerflügel der Union und selbst der FDP, deren Rhetorik vom leistungsbereiten Bürger, der morgens aufsteht, sie übernimmt, nicht auch finden könnte. Wobei generell überrascht, wie sehr sie auf die Leistungsgesellschaft und den von den verzogenen 68er Bürgerkindern diskreditierten Leistungsgedanken schwört. Ich fühle mich da ein wenig an die Lehrer meiner Schulzeit und deren Agenda erinnert.
Wagenknecht unterscheidet dann auch zwischen gutem und bösem Kapitalismus. Der gute Kapitalismus ist der, der im Lande bleibt und sich redlich nährt, während der böse der weltumspannende Finanzkapitalismus ist. Sie scheint da ihren Marx nicht gelesen zu haben, der ja geschrieben hat, dass beides zusammenhängt und einander bedingt, und scheint auch nicht zu wissen, dass die Unterscheidung zwischen „schaffendem und raffendem Kapital“ ebenfalls eine antsemitische Chiffre ist und eine prominente Rolle in der Naziideologie spielte. Gepaart wird das dann von ihr mit einer EU- und Eurokritik, die aus den Anfangstagen der Lucke-AfD stammen könnte. Als Sahnehäubchen versteigt sie sich dann zu der auch von der jetzigen AfD gepflegten Behauptung, die schleichende Enteignung der Sparer durch die Nullzinspolitik wäre den finanzpolitisch unsoliden „Südstaaten“ geschuldet, die pleitegehen würden, sollte das Zinsniveau angehoben werden.
Das Buch wurde 2021 veröffentlicht. Mich würde interessieren, wie sie das heute im Lichte der seitdem stattgefundenen Zinssteigerungen sieht. Aber da wird wohl nicht viel von ihr kommen, denn dafür, dass sie sich mit Fehlern, die sie in der Vergangenheit machte, auseinandersetzen würde, ist sie eher weniger bekannt.
Im zweiten Teil ihres Buches fänden sich jedenfalls quer durch alle Parteien viele Zeitgenossen in ihren Standpunkten wieder, wenn sie es denn lesen würden. Fast gewinnt man den Eindruck, Frau Wagenknecht strebe eine allumfassende Koalitionsfähigkeit ihrer Partei an. Was sehr erstaunt, wenn man ihre politische Geschichte verfolgt hat.
Ich werde aus ihr jedenfalls nicht schlau. Eigentlich hielt ich sie früher für ein großes Talent und dachte, ihre fundamentalistische Ader würde sich irgendwann einmal erledigen. Was ich aber wahrnehme, ist, dass ihre Standpunkte sich stark geändert haben, der schlagwortlastige Fundamentalismus aber, der ist geblieben.
Schade. Ich hatte mir mehr von ihr erhofft.
Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus Verlag, Frankfurt / Main 2021, 416 S., gebundene Ausgabe 24,95 €, Taschenbuch 15 €
Der Rezensent
Christian Rannenberg, geb. am 21. Juni 1956 in Solingen, lernte 1976 während seines Biologiestudiums in Osnabrück Todor „Toscho“ Todorovic kennen und gründete mit ihm die „Christian Rannenbergs Bluesband“, die sie bald in „Blues Company“ umbenannten. Rannenberg spielte auch mit der Bluesband „Das Dritte Ohr“, die u. a. den Chicago Blues-Gitarristen Eddie Clearwater begleitete zusammen.
1982 siedelte er in die USA über und spielte mit dortigen Größen der Blues-Boogie-Szene zusammen. Zu hören ist er außer auf seinen eigenen Alben auch auf Tonträgern von Lousiana Red, Toscho, der „Blues Company“, der „First Class Blues Band“ sowie der „Matchbox Blues Band“. 2013 wurde Christian Rannenberg mit den angesehenen„Pinetop Boogie Woogie Award“ als Bluespianist ausgezeichnet. Der renommierte Musikautor und -historiker Jürgen Wölfer befand, er sei der „Nestor der deutschen Blues- und Boogie-Pianisten“.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland Anfang der neunziger Jahre gründete Rannenberg in Osnabrück, in dessen Nähe er lebt, eine bis heute beliebte Jam-Reihe in der „Lagerhalle“.
Foto: JS
Wenn Christian Rannenberg nicht gerade auftritt oder dafür probt, sondern während der An- und Rückreisen in Zügen sitzt oder Zeit in Hotels verbringt, liest er aktuelle Zeitungen und Zeitschriften sowie politische Sachbücher, analysiert die Texte und bemüht sich, seine Erkenntnisse so gut wie möglich im täglichen Leben in seinem Umfeld umzusetzen.