Fußball-WM in Katar: Boykott auch vor dem Fernseher wäre eigentlich Pflicht
Ein Kommentar von Markus Brakel
„Glaub‘ an dein Glück: so erlangst du es“, sagt ein arabisches Sprichwort. Der Glaube des Emirs von Katar, Scheich Tamim bin Hamad Al-Thani, muss wahrlich groß sein. Nicht nur, dass er es als Viertgeborener an die Spitze seines Landes gebracht hat. 2022 kann er sich sogar auf das Spotlight weltweiter Wahrnehmung freuen. Er darf in seinem Emirat die Fußball-WM eröffnen. Dann soll sich die gesamte (Fußball-)Welt darauf freuen, beim Ergebnis einer der schlimmsten Korruptionsskandale der Sportgeschichte dabei sein zu dürfen. Für viele ist und bleibt die WM-Austragung in Katar schlicht eine mit viel Kapital realisierte Fata Morgana.
Ungewöhnlich ist daran zweierlei: Das Wüstenland steht weder im Verdacht einer tradierten Beziehung zu Ballsportarten – wenn man von lustigem Köpferollen in einer justizfreien Gesellschaft oder einer gekauften Handball-Nationalmannschaft für die ebenfalls gekaufte WM 2015 dazu mal absieht – noch ist es klimatisch zur Ausrichtung einer Fußball-WM geeignet. Es präsentiert sich hier allerdings eine monetär potente Marke, die nicht nur mit einer Flut an höchst dotierten Sport-Großveranstaltungen danach trachtet, sich global einen Namen zu machen und als Nebeneffekt Wirtschaftsbeziehungen anzukurbeln oder auszubauen. Waren es früher ausschließlich Renn-Kamele oder hochgezüchtete Vollblüter, mit denen arabische Potentaten sich maßen, darf es heut schon mal ein Fußballclub á la Paris St. Germain sein, den sich die Qatar Sports Investments im Mai 2011 einverleibte. Um allein in den ersten drei Jahren rund 350 Miollionen Euro in neue Spieler zu investieren…
Mit Geld lässt sich im Sport vieles kaufen (Nachfragen etwa zum großzügigen Umgang mit Russlands Doping-Dauerbetrug oder der Vergabe von Austragungsstätten wie Sotchi bitte das IOC und Thomas Bach…) und der internationale Fußball hatte seine Unschuld nicht erst beim deutschen, ebenfalls verschobenen Sommermärchen verloren. Die Liste der Verfehlungen der Fifa gegen das eigene Sport-Ethos ist lang. Sepp Blatter stand am Anfang eines umfassenden Paradigmenwechsels in der Fifa und der Kurswende hin zu einer bedingungslosen Kommerzialisierung. Auch bei der Vergabe der WM 2018 an Russland ging es ja nicht mit rechten Dingen zu. Dazu passt die aktuelle Meldung, dass Blatter sowie der frühere Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke erneut wegen Verstößen gegen das Fifa-Ethikreglement von der unabhängigen Ethikkommission der Fifa u.a. zu einer Geldstrafe von je einer Million Schweizer Franken (rund 900.000 Euro) verurteilt wurden.
Nach jahrelangen Ermittlungen und mehr als 40 Anklagen im Fifa-Korruptionsskandal setzten die Anschuldigungen amerikanischer Strafverfolgungsbehörden im vergangenen Jahr die katarischen WM-Ausrichter unter Druck. Beim Zuschlag für das Wüstenreich sollen vier Ex-Funktionäre bei ihrer Entscheidung dem Ruf des Geldes gefolgt sein. „Unglücklicherweise gibt es eine schlechte Vergangenheit. Wir müssen lernen und nach vorne schauen“, versuchte FIFA-Chef Gianni Infantino diese traurige Tatsache im Dezember 2017 herunterzuspielen, anstatt nach Bekanntwerden des Skandals schleunigst für eine Verlegung der WM zu sorgen. Das wäre zwar teuer geworden, hätte sich im Sinne der Sache aber bestimmt gelohnt.
Denn es schwelt an der Basis des mächtigen Verbands, die Fans fühlen sich in mehrerlei Hinsicht verschaukelt. WM-Schauen nachmittags beim Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt? Schon der Gedanke erzeugt einen gewissen Würgereiz. Die Tendenz – nicht nur beim Fußvolk – läuft auf einen massiven Boykott zu. Aktuell hatten mehrere norwegische Erstligisten ihren Verband vergeblich aufgefordert, keine Mannschaft zu entsenden. Immerhin setzten die Spieler selbst in ihrem ersten WM-Qualifikationsspiel ein Zeichen für die Fußball-Sklaven auf den Baustellen Katars. Auch die deutsche Nationalelf gab mit der Aktion „Human Rights“ als Schriftzug auf eigens von den Spielern vorbereiteten Trikots vor dem WM-Qualifikationsspiel gegen Island ein deutliches Statement. Es geht bei weitem nicht nur um den Betrug bei der Vergabe. Vor allem die teils skandalösen Arbeitsbedingungen für die rund zwei Millionen meist aus Asien stammenden Gastarbeiter in Katar sorgen für internationale Empörung. In Deutschland etwa ruft die Initiative „Pro Fans“ den DFB deswegen zum WM-Boykott auf. Und die Zahl der Kritiker wächst täglich weiter.
„Also ich habe noch nicht einen einzigen Sklaven in Katar gesehen. Die laufen alle frei rum, weder in Ketten gefesselt, noch mit Büßerkappe am Kopf, das habe ich noch nicht gesehen.“ – So sprach der abgedankte Rundleder-Kaiser Franz Beckenbauer und bei dieser sehr eindrucksvoll offenbarten hoheitlichen Naivität fühlt man sich spontan an die sympathische Einfalt seiner Karriere-Jugend als Tütensuppen-Werbekasper erinnert. Denn natürlich arbeiten die Menschen in Katar nicht unter Zwang – höchstens dem des Geld verdienen Müssens. Aber offenbar eben auch nicht unter menschenwürdigen Bedingungen.
Tausende ausländische Arbeiter schuften täglich auf den Baustellen des Wüstenemirats. Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) hat im März 2021 schwere Vorwürfe erhoben.
Bis zu 600 Arbeiter könnten bis zur WM jedes Jahr sterben, rechnet der IGB laut der britischen Zeitung „Guardian“ vor. Ursache für die Todesfälle sei die harte und gefährliche Arbeit sowie die mangelnde Hygiene in den Massenunterkünften.
Mal ganz abgesehen von der Groteske, dass hier absehbar für Milliardensummen Sportruinen in den Wüstensand gesetzt werden, die anschließend niemand mehr braucht oder dass diese Arenen mit hohem Energieaufwand klimatisiert werden müssen, um einen Spielbetrieb überhaupt zu ermöglichen, ist die Vorstellung verstörend, dass auch die Sandsturm-Saison vor Ort jederzeit die Regie über das Sport-Großereignis übernehmen könnte. Noch abschreckender wirkt aber die Tatsache, dass diese für viele Menschen rund um den Globus wichtigste Sportveranstaltung in einem Land stattfinden darf, das keine Fußball-Seele hat, hatte oder jemals haben wird. Abgesehen von vielen weiteren guten Gründen gegen die WM in Katar: Diesen Verrat an der Sache kann man nicht verzeihen! Und ein Boykott dieser WM auch vor dem TV wäre schon deshalb eigentlich Pflicht. Weiß‘ nur nicht, ob mein Fußballherz das mitmacht…
Markus Brakel
wurde am 26. Juli 1960 in Münster geboren. 1983 begann er als Volontär bei den „Westfälischen Nachrichten“ und blieb bis 1990 als Redakteur bei dem Blatt. Nach Stationen beim Presseamt der Stadt Münster und als freier Journalist wurde Markus Brakel Chef vom Dienst beim Privatsender „Antenne Düsseldorf“. 1995 veröffentlichte er den Düsseldorf-Krimi „Kö-Schatten“, 1998 wurde er freier Autor und schrieb fortan u.a. für das „Handelsblatt“, die „Welt am Sonntag“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schwerpunktmäßig über die Themen IT-Dienstleistungen, Logistik, Telekommunikation und Gesundheitspolitik. Seine satirische Ader befriedigte der eingefleischte Fan des ersten Deutschen Fußballmeisters Preußen Münster zeitweise bei einem Online-Satire-Magazin speziell im Sportbereich. Gemeinsam mit dem damaligen SAP-Forschungschef Lutz Heuser realisierte er als Co-Autor und Redakteur das Buch „Heinz´ Life – Kleine Geschichte vom Kommen und Gehen des Computers – 1962 bis 2032“ in Form eines Tagebuches über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Markus Brakel war Pressereferent der Bundeszahnärztekammer und ist dies nun bei der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde..