Zeitlose Gedichte

Zeitlose Gedichte

Frech-melancholisch Gereimt-Ungereimtes

Ruth Forschbach empfiehlt Lyrik von Mascha Kaléko

Haben Sie Lust auf zeitlose Lyrik? Lyrik, wie sie schon Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky oder Hermann Hesse erstaunte und anrührte? Dann habe ich eine Empfehlung für Sie: Mascha Kaléko. Sie war eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts.

1907 als Tochter jüdischer Eltern in Galizien geboren, fand sie 1918 in Berlin Herzens-Heimat und ihre Lebensliebe. Dort wurde auch ihr Sohn Steven geboren. Bereits im Alter von 22 Jahren veröffentlichte sie erfolgreich ihre kess geschriebenen Gedichte in Zeitungen. Ihre Verse trafen den Nerv der Zeit. 1930 folgte ihre erste Buchveröffentlichung, es folgten schneller Ruhm und ein hoher Bekanntheitsgrad.

Durch die politischen Verhältnisse von 1933 um jegliche weitere Wirkungsmöglichkeit gebracht, emigrierte sie mit Ehemann und Sohn Steven in die USA. 1959 siedelte das Ehepaar nach Jerusalem über, doch Mascha Kaléko wurde in Israel nie heimisch. Ihr einziges Kind Steven starb mit 31 Jahren. Von diesem Schicksalsschlag erholte sich das Ehepaar nicht mehr. Der Tod ihres Ehemannes verstärkte die Einsamkeit von Mascha Kaléko. Sie starb 1974 auf einer Lesereise durch Europa in Zürich.

Wie keine andere Lyrikerin versteht es Mascha Kaléko, meine Ohren und Augen für Poesie zu öffnen. Ihr frech-melancholisch Gereimt-Ungereimtes ist alterslos, alltagstauglich geschrieben, voller Witz, Tiefe und Scharfsinn. Ihre zugänglichen in Dur und Moll geschriebenen Gedichte öffnen mir den Blick auf ihre Lebenslinien in Deutschland, USA, Israel und der Schweiz.

So gehe ich mit ihren zu Worten gewordenen Gedanken durch ihre Zeiten: Ich schlendere mit der jungen Mascha in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts frech-unverkrampft, euphorisch und hoffnungsvoll durch ihre Heimatstadt Berlin. Verliere sie in der Zwangsisolation. Spüre sie und ihre Familie in New York wieder auf – entfremdet und ruhelos im Exil. Heimatsuchend und heimatfindend bei Mann und Kind. Gehe mit der Entwurzelten nach Jerusalem in eine neue Fremde, schwer gezeichnet und verwundet durch harte Schicksalsschläge.

Und dennoch, wundersame fröhlich unsentimentale Töne durchbrechen die Schwere ihrer späten Gedichte, auch die aus denen der letzten, ihrer einsamsten Jahre. Sie setzen ihrem Leben und Schaffen ein kraftvolles Denkmal. – Danke Mascha!

„Bewölkt, mit leichten Niederschlägen – Gesammelte Gedichte“ von Mascha Kaléko (mit Zeichnungen von Hans Ticha), Büchergilde Gutenberg, Frankfurt a. M., 2020, 336 Seiten 28 Euro


LESEPROBEN

Die Ich-Brille

Wie sehr sich der Mensch auch bezwinge

Er liebt sich, und Liebe macht blind.

Mir scheint oft, wir sehen die Dinge,

ganz ehrlich gesagt: wie wir sind.

Gebet

(Auszug)

Herr, unser kleines Leben – ein Inzwischen,
Durch das wir aus dem Nichts ins Nichts enteilen.
Und unsre Jahre: Spuren, die verwischen,
Und unser ganzes Sein: nur ein Einstweilen
Lass du uns wissen, ohne viel zu fragen.
Lehr uns in Demut schuldlos zu verzeihn.
Gib uns die Kraft, dies alles zu ertragen,
Und lass uns einsam, nicht verlassen sein

Heimweh, statistisch erfasst

Jene Sehnsucht nach der alten Heimat

Ist, (wer hätte das nicht schon erfahren!)

Nur ein Drittel Heimweh nach dem Lande Und zwei Drittel nach vergangenen Jahren

Verse für kein Gästebuch

Nein, Madame, ich spiele nicht Bridge

Sie müssen vergeben

Ich vertreibe mir das Leben

Mit anderen Übeln.

Zum Beispiel: mit Grübeln

Über das Dasein

Gewinnchancen – keine.

Auch ist es ein ungeselliges Spiel. Man spielt es alleine.


Über die Rezensentin

Ruth Forschbach ist Mitglied der Frechener Schreibwerkstatt und verfasst Gedichte. Sie lebt mit ihrem Partner in Frechen-Königsdorf. Als Kommunikationstrainerin ist sie für die PRO RETINA Deutschland, eine Selbsthilfevereinigung von Menschen mit Netzhautdegenerationen, in Beratung und Organisation projektbezogen tätig. Sie interessiert sich für Kunst in jeder Ausdrucksform. Deshalb besucht sie in ihrer Freizeit gerne Ausstellungen, Museen und geht ins Kino, Theater und auf Musik-Veranstaltungen. Weil ihr der Kontakt zu Menschen nicht nur beruflich sehr wichtig ist, pflegt sie ihren Freundeskreis.

Ruth Forschbach hat kürzlich ihre ersten beiden Gedichtbände veröffentlicht: „Zwischen Punkt und Komma“ und „Im Inneren der Zeit“, ehältlich bei der Autorin via lyrisches-mittendrin@t-online.de.

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