Poesie am Puls der Zeit

Poesie am Puls der Zeit

Silke Loser empfiehlt
„Versnetze_15 – Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart“,
herausgegeben von Axel Kutsch

Erschienen im Ralf Liebe Verlag, Weilerswist 2022

Erst im Frühsommer 2022 erschienen, liegen die Versnetze, schon jetzt, Ende Juli, mit deutlichen Gebrauchsspuren vom vielen Auf-, Um- und Hineinblättern und einer kunterbunten Papierkrone aus Memo Stickern vor mir. Tiefblau sind sie für die diesjährige Herausgabe gestaltet, mit kontrastierenden kupferfarbenen Lettern und, seit 2019, großen historischen Ziffern des jeweiligen Jahrgangs auf der Vorderseite. Es ist bereits die 15. Ausgabe dieser über 360 Seiten starken Lyrik-Anthologie, die ihr Herausgeber Axel Kutsch in Zusammenarbeit mit dem Ralf Liebe Verlag jährlich veröffentlicht. Neben thematisch festgelegten Anthologien (zuletzt: Fährten des Grauens, Deutschsprachige Grusel- und Horrorgedichte, Hg. Axel Kutsch, Verlag Ralf Liebe, 2021) sind die Versnetze als Herzensprojekt bewusst ohne inhaltliche Festlegung ausgeschrieben.

Sie folgen ihrer bewährten Aufstellung der Generationen und Regionen und sind geordnet durch Postleitzahlengebiete und das Geburtsjahr der Autor*innen. Dieses Jahr wurden Gedichte von 265 Autor*innen aus rund 2.000 eingereichten Texten aufgenommen.

Als „work in progress“ hat dieses umfangreiche Projekt einen festen, subversiven Platz im Lyrikgeschehen eingenommen und feiert seine Vielseitigkeit der Schreibweisen, die man so nirgendwo anders findet. Wie gewohnt und geschätzt legt der Herausgeber den Finger an den Puls der Zeit und versammelt neue Gedichte bekannter und unbekannter/er Autor*innen jeglichen Alters. Auf der Rückseite der Versnetze wird ein Gedicht hervorgehoben, das in besonderer Weise die Ausgabe repräsentiert. Es ist diesmal von Ulrike Draesner und steht mit den Versen „(…) nimm idyllik und nimm / davon einfach idyllik weg. minus eins.(…)“ für die Zusammenstellung dieser Ausgabe (wie jeder anderen davor). Gefühliges, Abgegriffenes und öde Naturbetrachtungen sind Axel Kutschs Sache nicht.

Nach dem ersten Streifzug verfangen einige Gedichte der jüngeren Jahrgänge, z.B. Anne Martins was ist schon sicher / liebling (S.27) mit seinem gesellschaftskritischem Kontext, Sandra Aras‘ Auseinandersetzung mit dem Ankommen (S.79), wie auch Sophie Hausin (S.80) ein klangvolles Gedicht aus vielen Fragen gewebt hat. Das Gedicht von Larissa Niesen Mare Finitum (S.123) scheut sich ebenfalls nicht vor Rhythmus und auch Reimen und spricht bemerkenswert offen an, was wahrscheinlich fast jeden in dieser Zeit mal erfasst: „Wenn ich jetzt rausseh, seh ich blau. / Und fühl mich so. Und fürchte mich. / Weil diese Welt nicht meine ist, / und es nicht wird. Und es nie war. / Mir bricht der Standpunkt fließend weg. (…) Ich frag mich, ob ich Ruhe will, / für mich und die Meinen. Vielleicht will ich auch nichts davon. Vielleicht will ich nur weinen.“ Mit der Farbe Blau nimmt es ein Thema auf, das sich als Faden der Melancholie und Sehnsucht durch die gesamten Versnetze_15 zieht, bis hin zur Umschlaggestaltung. Martin Piekar dagegen nimmt uns mit auf einen seiner abendlichen Streifzüge zum entstehenden Werk eines Sprayers: „(…) ich bleibe / (…) ich möchte zusehen / wie der panzer immer & immer wieder über den schriftzug / made in germany hinwegrollt (…) als es dunkelt, streiche ich das e (…)“. Besonders gelungen mit aktuellem Bezug auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist Patrick Wildens Gedicht Barszcz ukrainski (S. 36). Es ist nah dran, nimmt mit wachen Sinnen wahr und uns mit in eine Erinnerung, von der ein Bild bleibt, das auch heute für das lyrische Ich Bestand hat, die blutrote Suppe. Aber auch Martin Neuerts grillsonate. stalinorgel (S. 95) und wolke von Kathrin Niemela (S. 271) setzen sich auf besondere Art mit diesem Thema auseinander.

Wie es überhaupt in den Versnetzen jede Menge Gedichte mit Bezug zum aktuellen politischen (Welt)Geschehen oder gesellschaftskritischem Kontext zu lesen gibt, z.B.
die von Sabine Schiffner (S. 148/49) zum Thema Obdachlosigkeit oder auch Pega Munds nicht neues : wir (S. 282), „(…) und dreifach verriegelt unsere herzen / sind hohlraumversiegelt wir fühlen / computergestützt bei bedarf / frisieren wir uns politisch korrekt (…)“. Man spürt generell in dieser 15. Ausgabe, dass die lyrische Zunft gerade vieles umtreibt. Eine herausfordernde Zeit wirft ihre Schatten auf uns.

So ist eines der häufigsten Motive der Sturm bzw. Wind, Regen und Nässe, von denen wir in Form von Unwettern bis hin zu Tornados aufgrund des Klimawandels heimgesucht werden, die aber im übertragenen Sinn auch für eine schwierige, aufgepeitschte Gegenwart und einen (über)fordernden Zeitgeist stehen können.

Christoph Wirges Wir nannten es Regen (S. 138) zeigt, wie man über Gegenwart schreiben kann, ohne die Haltbarkeit einer Nachrichtensendung in Kauf nehmen zu müssen. Mit den abschließenden Worten „(…) Gestorben ist der Witz / mit der Baggerfahrt / durch die Eifel.“ bleibt das Lachen (endlich) im Halse stecken. Armin Steigenbergers windwechsel und windmühle, -hose (S. 280/81) setzen sich damit auseinander, wie das lyrische Wir den Wind einzuhegen versucht und doch Teil von ihm ist, ihn zu ernten versucht „(…) da dreht sich was, mahlt schatten, kreist im wind. / was kreißt da nur? (…)“ und sich doch das lyrische Ich am Ende „(…) und dann? ins rittertum zwangseingewiesen.“ fühlt, ganz Don Quichotte.

Zur Rezensentin
Silke Loser lebt in Paderborn. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte, arbeitete u. a. als Texterin und Lehrerin. Ist heute als Kaffeeröstmeisterin und Seminarleiterin im Familienbetrieb tätig, der auch Plattform für Kulturveranstaltungen ist. Sie schreibt und veröffentlicht Gedichte in Anthologien und Zeitschriften, liest viel und beschäftigt sich mit Kunst der Gegenwart und Vergangenheit. Foto: privat

Auch Herbert Hindringers Kommt, Ihr Töchter fasst diese Überwältigung in Worte: „(…) der eine Regen fällt / in den anderen / die nassen Menschen werden / nasser, die blassen Figuren / werden umgeblättert (…)“ Und Eva Maria Berg (S. 251) vermerkt lakonisch: „(…) wind mahlte / das korn für / die ganze stadt / nun fegt er bloß noch / unrat über / den platz“.


So passt es auch, dass der (unruhige, fehlende…) Schlaf als wiederkehrendes Motiv auftaucht, z.B. bei Achim Wagner (S. 49), Achim Ammes Wiegenlied (S. 108), „Ich kann nicht schlafen. der Wasserhahn tropft.“, oder Augusta Laars Ganz oben (S. 290), „im schlaf keinen schlaf finden“. Es hat sich eine innere Unruhe und ernsthafte Sorge breit gemacht, die in vielen Texten zum Tragen kommt.

Aber es gibt auch die ausbalancierten Gedankenskizzen und philosophischen Ansätze als Einladung zur Auseinandersetzung, w.z.B. Ungenügen und Philsophie von Richard Dove (S.294), sinn-gedicht von Ilse Kilic (S. 320), du glaubst dass türen sind von Siegfried Völlger (S. 292), Jürgen Brocans Gottesdeponie (S. 143), Franz Hodjaks Flucht, Pulsschlag, Dichter und Flaschenpost (S. 257) und Schwarze Löcher von Evert Everts (S. 213) mit den leuchtenden Versen: „(…) Manches, das wir taten, / lässt uns heute noch / vor Scham erröten. / Nach wie vor rätseln wir, / ob man uns je verzieh.“

Natürlich gibt es auch in dieser Ausgabe sehr gelungene Naturlyrik zu entdecken, allerdings merkt man schnell, sie erschöpft sich nicht in reinen Beschreibungen, z.B. Miriam Tags suki, chamäleon, Jürgen Nedzas Rotbuche (S. 166), Verlass von Rusalka Reh (S. 44) und Das Riß von André Schinkel (S. 39), das zeigt, wie man einer Betrachtung Vielschichtigkeit und Tiefe geben kann.

Ausgehend von dem Gedanken, in diese verrückte Welt geworfen und kurze Zeit ein Teil von ihr zu sein, zeigen die diesjährigen Versnetze auch, wie private Beziehungen in den Fokus gerückt werden. Anton G. Leitner (S. 285), Renate Schmidtgall (S. 245), Guy Helminger (S. 151) und Michael Spyra (S. 29) z.B. setzen sich auf unterschiedliche Weise mit dem Tod eines Menschen auseinander. Sei es in prosanaher Briefform bei Anton G. Leitner, als poetischer Nachruf (Schmidgall) oder als Reflektionen über den Vater, dessen Distanz zum lyrischen Ich im Leben durch das Schreiben nach seinem Tod vielleicht ein Stückweit überwunden werden kann, um Abschied zu nehmen (Helminger). Jürgen Trautner reflektiert in seinem Sechszeiler kind (S. 237) sowohl Kindheit, als auch die Beziehung zur Mutter, ohne dass es zusätzliche Worte bräuchte. Und nicht zu vergessen die wunderbaren Beziehungs- und, Liebesgedichte dieser Ausgabe!  So z.B. Joanna Lisiaks der tradition verpflichtet (S. 337), das konstatiert: „(…) wir haben geliebt wie gehabt / unaufgeregt innig solide / (…) haben uns geweigert abzurechnen / in soll und haben seiten“, Stan Lafleurs Ich wäre gern mit dir in Giresun geblieben (S. 139) und Peter Kapps Realitätsprinzip und Kill your Darlings (S. 229), zwei sensibel nachspürende und sprachlich fein gewebte Gedichte, „(…) dabei geht es / um Metaphysik, nicht um Beziehung. Das können doch alle, / irgendwie. Es geht um Sinn, der uns an einem anderen Ort / blüht, ein friedlicher Ort, wenn wir jeweils dort ankommen: / Zuhause, zusammen.“


Auch Lyrik mit Bezug auf Musik, Kunst und Kultur und viele gelungene Gedichte über das Schreiben und die Poesie nehmen einen wichtigen Platz ein. Werden die Probleme in der Welt und der Gesellschaft drängender, dann suchen die Autor*innen in besonderem Maße die Nähe anderer schöpferischer Bereiche oder Künstler. (Z.B. Irena Habalik, S. 324, Ilse Kilic, S. 321, Ingo Cesaro, S. 307, Fritz Deppert, S. 263, Gerrit Wustmann, S. 125, Gringo Laar, S. 135, Angelica Seithe, S. 111, Johanna Hansen, S.171, Christoph Leisten, S.158, Bastian Kienitz, S. 133, und natürlich Gundula Schiffer, S. 127, mit den Versen „Sprache ist das Nachtigste, / Sterbigste, und ach, so karg – das persönlichste Präsent zur Geburt / (Jahre dauerte das Auspacken (…)) mein Eigenwilligstes, der Beweis, dass ich / eine Zeit gelebt habe, jede durchdichtete Nacht / über den Sternenhimmel der Worte gebeugt / mit dem glanzlosen Morgen danach“.)

In vielen Gedichten dient die Unmittelbarkeit von Musik (oder Geräuschen) als Vehikel für Gedanken und Gefühle und inspiriert, z.B. bei Konstantin Ames Gedichten Vokalise und B-Seite (S. 32), Bertram Reinickes Collage aus Liedtexten (S. 34), die Aufdringlichkeit der Zikaden, die Wolfgang Bitter in seinem gleichnamigen Gedicht  (S. 117) schrillen lässt und sich selbst und uns rät: „(…) wehre dich nicht. Empfinde die Schönheit ihres Gesangs, / wehre dich nicht, / du schläfst einen traumlosen Traum.“ Raymond Dittrich dagegen erinnert sich an einen gemeinsam verbrachten Abend mit alten Blues-Schallplatten, knistrig, mit ein paar Kratzern und Sprüngen von „(…) Diese[n] Blinden, die uns / hörend und sehend machen / mit ihren Geschichten / vom Leben, / in eine blaue Gitarre gesungen. (…)“.

Und dass es nicht nur schwermütig oder ernst zugehen muss, sondern die Lyrik der Versnetze auch das Leben hochhält und feiert, mit allem, was dazu gehört, zeigen Manfred Hausins Dass wir so lang leben dürfen (S. 102) und Safiye Can mit ihren lyrischen Collagen (S. 226/27), die uns an das erinnern, was Lyrik (bzw. Kunst im Allgemeinen) immer sein kann und wird und weshalb sie uns innerlich aufrichtet und eng ans Leben bindet. Dass Gedichte aufgenommen werden, die auch Schwäche zeigen, aber trotzdem im Detail, in einem Vers oder einem Gedankentwist strahlen, eröffnet einen werkstattähnlichen Raum, der durch Toleranz und Liebe zur Lyrik gekennzeichnet ist. Zwar gibt es immer mal wieder Stimmen, die bemängeln, das einzelne Gedicht ginge unter in der Masse der Texte, es solle strenger ausgewählt werden, allerdings würde dabei etwas verloren gehen, was gerade die Versnetze ausmacht: Es ist ein Projekt, das, initiert von einem einzelnen Herausgeber, von sehr vielen getragen wird und verbindet. Damit besetzt es eine Nische. Jetzt und in Zukunft werden Literaturwissenschaftler für einen vollständigen Blick auf die Entwicklung der deutschsprachigen Lyrik unserer Zeit auch die Versnetze zur Hand nehmen müssen.

Axel Kutsch (Hg.), „Versnetze_15 – Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart“, 367 Seiten, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2022.

Über den Herausgeber Axel Kutsch

Geb. 1945 in Bad Salzungen / Thüringen, Kindheit und Jugend in Stolberg und Aachen, seit 1969 Journalist, Redakteur beim „Kölner Stadt-Anzeiger“; seit 1999 freier Autor und Herausgeber. Mehrere Lyrik-Buchpublikationen, oftmals mit Gedichten in Anthologien, Zeitungen, Zeitschriften und im Rundfunk vertreten. Gründungsmitglied und Ehrenmitglied des Autorenkreises Rhein-Erft. Er lebt heute in Ahe (Stadt Bergheim).

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