Fiktives Interview* mit H. G. Wells

Fiktives Interview* mit H. G. Wells

Der britische Schriftsteller H. G. Wells bei der Arbeit.

Verschrobene Gedanken und gewalttätige Impulse


Der Brite Herbert George Wells (1866 – 1946) gilt als Vater der modernen Science fiction. Aus seiner Feder stammen Bücher wie „Die Zeitmaschine“ oder „Der Krieg der Welten“. Weniger bekannt als diese Weltbestseller ist die Tatsache, dass der Begriff ‚Atombombe‘ auf Wells zurückgeht. Dessen 1913 erschienener Roman „Befreite Welt“ war von solcher Folgerichtigkeit, dass der vor den Nazis aus Ungarn geflohene Physiker Leo Szilard nach der Lektüre des Buches Albert Einstein zur Unterschrift unter den berühmten Brief überredete, in dem US-Präsident Roosevelt die Entwicklung der Atombombe dringend nahegelegt wurde. Szilard wandte sich später gegen die Nuklearangriffe auf Japan und wurde selbst Science fiction-Autor (u. a. „Die Stimme der Delphine“). Der Visionär Wells verbrachte nach den Einäscherungen von Hiroshima und Nagasaki 1945 sein letztes Lebensjahr in tiefer Depression.


Jürgen Streich (J.S.): Mr. Wells, Sie haben stets vor der Unterdrückung von Gesellschaften durch andere, technisch und materiell überlegene, gewarnt. Heute ist diese gang und gäbe. Warum?

H. G. Wells (H.G.W.): Überall befanden sich an den Schaltstellen der Macht energische, ehrgeizige, kurzsichtige, alltägliche Männer, die den neuen Möglichkeiten gegenüber blind waren und streitsüchtig die Tradtion hochhielten.

J.S.: Welche Auswirkungen hatte das?

H.G.W.: Die vielleicht gefährlichste dieser überholten Traditionen bestand in den Grenzen der verschiedenen „souveränen Staaten“ und in der Vorstellung einer einem einzigen Staat zukommenden weltweiten Vorherrschaft im menschlichen Bereich. Die Erinnerung an die Weltreiche von Rom und Alexander dem Großen spukte wie ein nicht gebannter gefräßiger Geist im menschlichen Bewusstsein, bohrte sich in die Gehirne wie ein grausiger Wurm und weckte verschrobene Gedanken und gewalttätige Impulse.

J.S.: Also behindert Großmachtstreben vergangener Epochen Ihrer Ansicht nach eine neue Ordnung. Wie kam es dazu?

H.G.W.: Länger als ein Jahrhundert verblutete der französische Staat in wilder Angriffslust, steckte damit die deutschsprachigen Völker im Zentrum und Herzen Europas an, und schließlich auch noch die Slawen.

J.S.: Wie funktionierte das?

H.G.W.: Zahllose Generationen hatten ihre Zeit mit Stammeskriegen verbracht, und das Gewicht der Tradition, das Beispiel der Geschichte, die Ideale von Herrschaftstreue und Ergebenheit erleichterten die Hetze der internationalen Unruhestifter.

J.S.: Sie meinen, dass dieser Geist bis in die heutige Zeit wirkt?

H.G.W.: Das alles erscheint nun fast unfassbar, aber zu Beginn des neuen Zeitalters hüteten die führenden Staatsmänner das Licht ihrer historischen Kerzen und erörterten und planten die Neugestaltung der Landkarten Europas und der Welt …

J.S.: Der leider schon verstorbene Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer, Gründungspräsident der Vereinigung für das solare Energiezeitalter, EUROSOLAR, war der Ansicht, mit der Atomrüstung – also der grundsätzlichen Bereitschaft zur Massenvernichtung – sei der Geist Hitlers konserviert worden.

H.G.W.: Sicher erscheint uns heute im Rückblick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts einleuchtender als die Schlussfolgerung, dass die Entwicklung der Dinge einen Krieg in Kürze unmöglich machen würde. Und ebenso sicher erkannten die Menschen das damals nicht. Sie erkannten es erst, als die Atombomben in ihren tapsenden Händen explodierten.

J.S.: Tatsächlich haben Sie Atomexplosionen bereits 1913 beschrieben.

H.G.W.: Dem Donner folgte ein heulender Sturm, und der Himmel füllte sich mit zuckenden Blitzen und dahinjagenden Wolken…

J.S.: Auf Hiroshima und Nagasaki folgten später über 2.000 nukleare Explosionen. Dadurch siechten und starben Menschen und Tiere, ganze Landstriche wurden verseucht. Dabei waren es nur Tests.

H.G.W.: Aber jedem vernünftigen Menschen mussten die unübersehbaren Tatsachen aufgefallen sein. Während des ganzen 19. und 20. Jahrhunderts war das Ausmaß an Energie, die den Menschen zur Verfügung stand, andauernd gewachsen. Nicht gewachsen war hingegen die Fähigkeit, sich dagegen zu schützen. Jede Art von passiver Verteidigung, von Schutzmaßnahmen, Befestigungen und so weiter wurde durch die erschreckende Zunahme der Venichtungsgewalt zwecklos.

J.S.: Der Vertrag zur Nichtverbreitung von Kernwaffen ist unbegrenzt verlängert worden, ein Teststoppvertrag de facto in Kraft, wenngleich Nordkorea ihn nicht unterschrieben hat und sich auch nicht daran hält. Dennoch: Sind nichtstaatliche Organisationen womöglich zu wenig beachtet worden?

H.G.W.: Die Mittel zur Zerstörung waren so einfach zu handhaben, dass jede kleine Gruppe von Unzufriedenen sie einsetzen konnte.

J.S.: Atomare Kriegführung drei Wochen nach Fertigstellung der ersten Kernwaffen, hysterische nukleare Aufrüstung, Gefahr des Atomterrorismus – welche Schlüsse sind Mitte des 20. Jahrhunderts daraus gezogen worden?

H.G.W.: Wenn wir uns einmal nicht mit unseren unmittelbaren Bedürfnissen befassten, sprachen wir über die Möglichkeit, den Gebrauch dieses furchtbaren Sprengstoffs zu stoppen, bevor die Welt völlig zerstört war. Uns erschien es vollkommen klar, dass diese Bomben und die noch größere Vernichtungskraft, deren Vorläufer sie waren, ohne weiteres jede menschliche Beziehung oder auch Institution vernichten könnten.

J.S.: Vor diesem Hintergrund beschreiben Sie das Wirken des Franzosen Leblancs mit großem Respekt.

H.G.W.: Er war beseelt von einem intellektuellen Idealismus, jenem besonderen Geschenk Frankreichs an die Menschheit. Er war durchdrungen von der bestimmten Überzeugung, dass es keine Kriege mehr geben dürfe und dass der einzige Weg dazu eine einheitliche Regierung für die gesamte Menschheit war.

J.S.: Das hielt er für realistisch?

H.G.W.: Er erörterte die Sache, als handele es sich um eine Selbstverständlichkeit.

J.S.: Im Gegensatz zu den meisten seiner Gesprächspartner sahen auch Sie das so. Warum?

H.G.W.: Alle diese Betrachtungen führen demnach zu der Erkenntnis, dass es keine Lösung des Kriegsproblems geben kann, keine Möglichkeit, die um sich greifende Zersetzung aufzuhalten, ausgenommen die pax mundi, eine oberste Weltaufsicht, welche genügend Autorität besäße, jeden Staat in Ordnung zu halten, und die zugleich einheitlich genug wäre, einen Weltgedanken zu verkörpern.


* Ab Mitte der neunziger Jahre und einige Jahre über die Jahrtausendwende hinaus arbeitete ich viel mit dem Kollegen Wolfgang Schellberg zusammen. U. a. waren wir Ghostwriter der Eröffnungsrede des damaligen Club of Rome-Präsidenten Ricardo Diéz-Hochleitner für die EXPO 2000 in Hannover. Und wir produzierten gemeinsam so manche Ausgabe der „I.P.I News“, der Vierteljahreszeitschrift der von der VW-Stiftung finanzierten International Partnership Initiative. Noch bevor ich dazustieß, hatte Wolfgang dort ein berufliches Hobby zur festen Rubrik gemacht: fiktive Interviews mit verstorbenen Personen der Zeitgeschichte, zu denen er jeweils ein Interview mit einer lebenden Person zum selben Thema stellte.

Die eigentliche „Kunst“ bei den fiktiven Interviews bestand, weil die Antworten der „Gesprächspartner“ in irgendeiner Weise dokumentiert sein mussten, darin, passende Textstellen zu finden, sie in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen und ebenso entsprechende Fragen dazwischen zu stellen.

Dem obigen fiktiven Interview fügten wir eines mit dem frühzeitigen Klimapolitiker, Gründer von Eurosolar und Träger des Alternativen Nobelpreises, Dr. Hermann Scheer MdB, an. Vor seiner Spezialisierung auf Klimafragen war er abrüstungs- und rüstungskontrollpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion gewesen und hatte u. a. das Buch „Die Befreiung von der Bombe“ geschrieben. Dieses wird in Kürze in „AUSSICHTEN“ ebenfalls in der Rubrik „Krieg und Frieden“ erscheinen. Leider sind mit dem von mir überaus geschätzten Hermann Scheer inzwischen auch nur noch fiktiveInterviews möglich, denn er starb im Jahr 2010 überraschend und viel zu früh im Alter von 66 Jahren.

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