Klagegesänge eines Fußballfans (Folge 6)

Klagegesänge eines Fußballfans (Folge 6)

Stammesangehörige


Diese Serie von Klaus Hansen für die Zeit bis zur Fußball-Weltmeisterschaft (So., 20. November bis So., 18. Dezember 2022) in Katar geplant, Nun ist diese Zeit eine Artikelserie des emeritierten Politologieprofessors und Publizisten Dr. Klaus vorbei und die Serie beendet. Doch der Autor Klaus Hansen wird „AUSSICHTEN“ als Kolumnist erhalten bleiben.


Von Klaus Hansen

Graphik: Klaus Hansen

Der Spielort, das Stadion, hat für uns Old Boys eine eigene Faszination. Für uns wird es auch immer „Stadion“ heißen und nicht „Arena“. Arena kommt vom lateinischen Sand (hjarena) und bezeichnet die Stätte mörderischer Gladiatorenkämpfe, in denen die hinterbliebenen Blutlachen mit Sand abgedeckt wurden. Stadion kommt aus dem Griechischen, ist ein Längenmaß und bezeichnet die Länge der antiken Laufbahn um das Sportfeld, cirka 180 Meter. Stadion ist das friedliche Wort. Mit dem Fortschreiten des Top-down-Fußballs wird es mehr und mehr ausgebürgert und durch Arena ersetzt. Auch semantisch wird es kriegerischer. Auch hier, wie überall, viel Scheinheiligkeit: „Bomber“ darf man zum Serientäter in der Sturmmitte nicht mehr sagen, „Arena“ aber gehört zum guten Ton.

Jedes Mal aufs Neue, wenn ich schon aus der Ferne das Wabern und den Rhythmus, die dumpfen Trommeln und das Stakkato der Stimmen höre, beschleicht mich ein Zuhause-Gefühl. Näher kommend, werden die Stimmen deutlicher: „Ist nur mein Verein okay, tut mir nichts mehr weh“ / „Mer stonn zo dir, mer jon met dir, wenn et sin muss durch et Füer“. Es ist wie eine Heimkehr in den Stamm. Dieses brüllende und seufzende Tier namens Stadion ist mein liebgewonnenes Neandertal.

Es ist ja nur ein großer Fleischwurstring. Fünfzig Tausend Säugetiere kehren der Gesellschaft den Rücken zu, um nur noch dem Spiel und sich selbst zuzuschauen. Hier ist mein festes Stehplatz-Revier seit 6 Jahrzehnten. Hier treffe ich auf Leute, die schon genauso lange da stehen wie ich. Wir altern zusammen, werden zusammen dick, kahl und vergesslich, aber kennen uns nur mit dem Spitznamen, der auf den Trikots aufgeflockt ist. „Drecksau“ „Dietz“ und „Spasti“ sind die zuverlässigsten von allen. Fehlt mal einer, fragt man nach ihm. „Mittagsschicht“, lautet die häufigste Antwort; „Urlaub“ habe ich noch nie gehört. Während des Spiels benehmen wir uns wie kleine Jungs mit Flausen im Kopf und dicken Eiern in der Hose. Obwohl der Atem langsam knapp wird. Das Wort Zivilisation ist für uns das, was es ist: ein Fremdwort. Ein wunderbarer Rückfall in die gemäßigte Barbarei! Wenn es handgreiflich wird, auch das kommt vor, stärkt das nur den Zusammenhalt. Sagt einer in der Halbzeitpause: „Ich geh ma pissen“, fordert ihn der andere auf: „Bring mir eins mit!“ Man versteht sich.

Das ganze Stadion ist verrückt, ein Narrenschiff auf der Woge des Überschwangs. Zehn Minuten nach Anpfiff wird über die Lautsprecherdurchsage ein Autofahrer gesucht: „Der Halter des Fahrzeugs mit dem Kennzeichen BM-SV 1902 wird gebeten, sofort zu seinem Auto zu kommen. Der Motor läuft, die Fahrertür steht auf und das Licht brennt.“ Da hat einer auf den letzten Drücker das Ziel erreicht, ist aus dem Auto gesprungen und ins Stadion gerannt, um ja nicht den Anstoß zu verpassen. In einem Spiel, bei dem es „um nichts mehr geht“. Das ist es! Dieser grenzenlose Enthusiasmus! Für uns gibt es keine Spiele, bei denen es um nichts mehr geht.

Diese trunkene Selbstvergessenheit scheint irgendwie nachzulassen. Bald wird es sie nicht mehr geben. Klimawandel auch im Stadion. Aber wir Älteren können bezeugen, dass es so etwas einmal gegeben hat. Und wir werden ein Leben lang davon zehren, dass wir dabei waren.


Klaus Hansen. Foto: Jürgen Streich

Der Autor

Klaus Hansens Interessensgebiete reichen von A wie Anarchismus bis Z wie Zivilcourage. Ganz wichtig dazwischen: F wie Fußball. Diese Sportart beleuchtet er in seinem neuen Buch aus allen Richtungen. Dabei zeigen viele seiner Geschichten, Gedichte, Essays und Graphiken, wie sehr Fußball die Gesellschaft und den Zeitgeist abbildet – ob auf dem Platz, auf den Zuschauerrängen, außerhalb der Stadien und auch in den Medien. Bis hinein in die große Politik wirken die Vergaben und Inszenierungen internationaler Turniere.

Hansen, geboren 1948 in Pronsfeld in der Eifel, studierte Psychologie, Soziologie, Publizistik und Ethnologie an der Universität Münster und wurde 1977 zum Doktor phil. promoviert. Es folgten verschiedene Dozententätigkeiten, von 1992 bis 1996 war er Regierungsdirektor im Bundesministerium des Inneren. Anschließend übernahm er eine Professur für Politische Wissenschaften und Politische Bildung an der Hochschule Niederrhein Krefeld / Mönchengladbach.

Klaus Hansen wurde 2013 emeritiert und arbeitet seither ausschließlich als Publizist. 2017 erschien im Kölner Roland Reischl Verlag sein Buch „Soccer – Stories, Lyrics, Essays“ als eine von zahlreichen Veröffentlichungen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert