Blutbad bei Jehovas Zeugen
Ehemaliges Mitglied richtet Blutbad in Hamburger Gemeindehaus an
Hamburg – 9. März 2023 – Acht Tote, darunter ein ungeborenes Kind in der 28. Woche, dessen Mutter überlebte und zahlreiche teils schwer Verletzte sind die Bilanz eines Amoklaufes nach einem Gottesdienst der Jehovas Zeugen in Hamburg-Alsterdorf. Der Täter erschoss sich im oberen Geschoss des Gebäudes, in das er vor der Polizei geflohen war, selbst. Von einem terroristischen Hintergrund gehen die Ermittler, so Hamburgs Innensenator Andy Grote, nicht aus. Er bezeichnete den tödlichen Anschlag als die „schlimmste Straftat in der jüngeren Geschichte unserer Stadt.“
Der Täter, der 35-jährige Philipp F., hatte auf einem Parkplatz zunächst ein Auto, in dem sich eine Frau befand, geschossen. Doch die Fahrerin konnte leicht verletzt mit dem Wagen, der von zehn Geschossen getroffen wurde, fliehen. Da die Haupttür des Gebäudes der Jehovas Zeugen verschlossen war, drang Philipp F. durch ein Seitenfenster ein und schoss unmittelbar danach auf die Anwesenden. Innerhalb von vier Minuten erreichten die Polizei 27 Notrufe von dort, der erste davon um 21.04 Uhr. Teilweise wurden die Anrufer noch während der Telefonate von Projektilen getroffen.
Bereits um 21.08 Uhr trafen erste Polizisten am Tatort ein. Sie riefen eine für derartige Einsätze besser ausgestattete Unterstützungsstreife, die sich zufällig in der Nähe befand, herbei. Diese war nur eine Minute später am Ort des blutigen Geschehens. Die Beamten konnte sich aufgrund der Eile nicht mehr mit Helmen und weiterer Schutzkleidung versehen. Um 21.11 Uhr schossen sie die verschlossene Tür auf und drangen in das Gebäude ein.
Dort verschoss Philipp F. neun Magazine á 15 Patronen, gab also 135 Schüsse ab. In seiner Wohnung wurden später weitere 15 Magazine mit ebenfalls je 15 Patronen, eine Schachtel mit 200 Schuss Munition, ein Laptop und mehrere Smartphones sichergestellt.
Am Tatort waren bald circa 1.000 Polizisten im Einsatz, darunter von der 52 Bundespolizei und Spezialeinsatzkräfte aus dem benachbarten Schleswig-Holstein. In dem sogenannten Königreichssaal, von dem es insgesamt acht in deutschen Gemeinden der Jehovas Zeugen gibt, waren während des Amoklaufes 36 Personen anwesend, 25 weitere waren digital zugeschaltet.
Hamburgs Polizeipräsident Martin Meyer sprach von einem Hinweis darauf, dass Philipp F. immense Wut gegen Anhänger religiöser Gemeinschaften, insbesondere gegen die Jehovas Zeugen, entwickelt habe. So habe er die Jehovas Zeugen „nicht im Guten“ verlassen. Er war in einem streng evangelischen Haushalt im Allgäu aufgewachsen, absolvierte eine Banklehre und studierte Betriebswirtschaftslehre. Ein Finance & Controlling-Studium hängte er an.
Auf seiner Homepage stellte Philipp F. sich als Berater unter anderem in theologischen Fragen dar und bezeichnete sich als „bekennenden Europäer“ mit „vielfältig international ausgerichteten Management-Positionen.“ Als äußerst dubios wurde seine Honorarforderung von 250.000 Euro pro Tag plus Mehrwertsteuer empfunden. Er begründete diese Summe damit, dass sich aus seiner Beratung für die Kunden ein Mehrwert von mindestens 2,5 Millionen Euro generieren lasse.
Auch ein Buch mit dem sperrigen, hochstaplerischen und anmaßenden Titel „Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan: eine neue, reflektierte Sicht epochaler Dimensionen“ hatte Philipp F. veröffentlicht. Darin vertritt er reaktionäre Positionen wie beispielsweise die, dass Männer die „Krone der Schöpfung“ seien, Frauen indessen nur „Dekoration“ und Helferinnen der Männer, denen sie sich unterzuordnen hätten. Zuletzt hatte er zum Ukrainekrieg betont, dass die Welt Russland gewähren lassen solle. Offenbar hatte Philipp F. Angst vor einem dritten Weltkrieg – für jemanden, der ohnedies an ein baldiges Armageddon, die Endschlacht zwischen Gut und Böse, glaubt, eine reichlich inkonsequente Haltung.
Während seines Amoklaufes schoss Philipp F. mit einer Pistole des Typs Heckler & Koch P 30, für die er eine waffenrechtliche Erlaubnis besaß, da er seit knapp einem Jahr Sportschütze war. Jedoch hatte ein ehemaliges Mitglied der Jehovas Zeugen-Gemeinde den Behörden im vergangenen Januar einen Hinweis auf eine nicht diagnostizierte psychische Erkrankung von Philipp F. gegeben. Bei einem Überprüfungsbesuch wollen die Beamten jedoch einen kooperativen und „äußerst symphatischen“ Mann vorgefunden haben. Er erhielt lediglich wegen der ungesicherten Lagerung einer Patrone eine Verwarnung, durfte die Waffenbesitzerlaubnis jedoch behalten.
Aus der Religionsgemeinschaft ausgestiegene ehemalige Zeugen Jehovas wiesen übereinstimmend darauf hin, dass jemand, der – ob aus eigenem Antrieb oder durch Ausschluss – die Gemeinde verlässt, von dieser gewissermaßen zur Unperson erklärt werde. Kein aktiver Jehovas Zeuge dürfe mehr mit ihm oder ihr reden, bei Anrufversuchen des Ausgeschiedenen werde einfach wortlos aufgelegt, im öffentlichen Raum bei zufälligen Begegnungen die Straßenseite gewechselt oder dem oder der Abtrünnigen anderweitig aus dem Weg gegangen. Selbst Familienangehörige würden diese meiden, sie nicht mehr einladen und jeglichen Kontakt zu ihnen abbrechen. So verliere ein Aussteiger von einem Tag auf den anderen nahezu sein gesamtes bisheriges soziale Umfeld, was die Betroffenen oft in Depressionen oder andere Probleme stürze. Einige ehemalige Jehovas Zeugen bieten Ausstiegswilligen oder bereits Ausgestiegenen daher Unterstützung an, damit sie künftig ohne die Religionsgemeinschaft in ein weitgehend normales Leben finden.
Aktualisierung am 6. 4. 2023: Das Nachrichtenmagazin SPIEGEL.de berichtet von einer Aussage des Chefs des Hamburger Landeskriminalamtes, Jan Hieber, dass der Vater von Philipp F. sich bereits 2021 an den psychiatrischen Dienst der Stadt Hamburg gewandt habe, weil sein Sohn von Stimmen, die er höre, und von Suizidgedanken geredet habe. Es seien aber nach einem Gespräch mit dem Sohn keine weiteren Maßnahmen für nötig befunden worden.
Bereits früher, im Jahr 2019, so der SPIEGEL weiter, habe das Umfeld von Philipp F. nach dessen Trennung von einer Partnerin und einem Arbeitsplatzverlust Wesensveränderungen beobachtet. F. habe daraufhin selbst Kontakt zu Ärzten gesucht, „um seine psychischen Probleme in den Griff zu bekommen“. In Bayern sei er auch in stationärer Behandlung gewesen, habe aber 2021 angekündigt, sich selbst heilen zu wollen. Laut LKA-Chef Hieber habe der Vater daraufhin die Behörden informiert. Zudem hatte ein anonymer Hinweisgeber versucht, Philipp F.’s psychische Störung mit dem wirren Inhalt eines von diesem geschriebenen Buches zu begründen.
Hamburgs Polizeipräsident Hans-Martin Meyer, dass auch bei einer intensiveren Auswertung der Lektüre und der Hinzuziehung eines Fachgutachtens der sofortige Entzug der Waffe von Philipp F. nicht einfach möglich gewesen wäre. Der Innensenator der Hansestadt, Andy Grote, wies darauf hin, dass die Überprüfung des Sportschützen vollkommen dem Standard entsprochen habe. Dennoch, so Grote, sei künftig ein umfassenderer Umgang mit Hinweisen notwendig. Zudem forderte er ein schärferes Waffenrecht. Der Senator; „Es ist zu leicht für Menschen mit psychischen Erkrankungen, eine Waffe zu erlangen.“