Gewissen auf vier Pfoten
Wie der Hund Tulpe aus „seinem“ Zweibeiner einen anderen Menschen machte
Von Jürgen Streich
Foto: Wiebke Janssen / https://sleepherds.de
Karlheinz Kallemann ist ein Kotzbrocken. 69 Jahre alt, zu dick und auch sonst unattraktiv, kann er niemanden leiden, am wenigsten wahrscheinlich sich selbst. So jemanden mag auch kein anderer, zumal er seine Nachbarn des Schrebergartenhauses, in dem er lebt, dauernd bei der Polizei anzeigt und herumkommandieren zu müssen glaubt. Auch Kinder und Tiere sind ihm zuwider.
So ist es beinahe folgerichtig, dass er einen kniehohen und struppigen Hund, der scheinbar herumstromert und Löcher in Kallemanns Tulpenbeete gebuddelt hat, in eine Holzkiste sperrt und in einem nahen Fluss versenken will. Doch als sich bei Kallemann zumindest ansatzweise so etwas wie ein schlechtes Gewissen meldet, will er die abgetriebene Kiste wieder bergen, findet sie aber nicht mehr. Er traut daher seinen Augen nicht, als er zu seinem Schrebergartenhaus zurückkommt und dort den klatschnassen Hund quicklebendig vorfindet.
Bald hat Kallemann, wie er das Buch hindurch nur noch genannt wird, den deutlichen Eindruck, dass der Hund zu ihm spricht, obwohl der sein Maul gar nicht bewegt (außer natürlich, wenn er frisst, was er oft und ausführlich tut). Es ist ihm, als entstünden die Worte des Tieres in seinem eigenen Kopf. So kommt es zu ersten Gesprächen zwischen den beiden. Der Hund gibt sich selbst den Namen „Tulpe“ und behauptet, Kallemanns Gewissen zu sein. Und da, betont Tulpe, gebe es ja wohl viel dran zu arbeiten. Bald schon stellt der Hund, der für sein Leben gern Nussecken frisst und längst in das Schrebergartenhaus eingezogen ist, „seinem Menschen“ Aufgaben. So hat Kallemann sich bei manchen Zeitgenossen zu entschuldigen und auch sonst einige Hinterlassenschaften aus seiner Vergangenheit aufzuräumen. Auch Kallemanns Fitness und mithin seine Figur will der Vierbeiner verbesssert sehen.
Einmal, als die beiden sich streiten, sagt der Hund: „Wenn Du nicht so ein miesepetriger, schlecht gelaunter, ständig seine Mitmenschen piesackender Typ wärst, wäre ich wahrscheinlich gar nicht hier.“ – „Was soll der ganze Quatsch?“, will der spürbar genervte Kallemann daraufhin wissen. – Darauf Tulpe: „Noch verstehst Du es nicht. Aber bald.“ Womit der Vierbeiner recht behalten sollte.
Als der einst so bärbeißige Mann längst auf dem Wege ist, ein besserer und zufriedenerer Mensch zu werden, lernen er und Tulpe die elfjährige Lina, die mit ihrer Mutter Meike in die Stadt gezogen ist, kennen. Bald schon sind sie ein Trio. Meike will ihrer Schwester, die im Krankenhaus liegt, helfen, um deren Café durch die schwierige Zeit zu bringen und ist heilfroh, dass Lina, die Sommerferien hat, so nicht langweilig wird. Das Mädchen unterstützt Tulpe bei dessen Streben danach, dass Kallemann sein Leben weiter aufräumt (und dabei, an Nussecken aus dem Café zu kommen).
Die Drei haben viel Spaß miteinander und erleben auch aufregende Sachen. Doch dann motivieren Lina und Tulpe Kallemann zu einer Sache, die er zunächst selbst auch will, ihn dann aber offenbar emotional überfordert. Er fällt kurzzeitig in alte Muster zurück und sprengt so den freundschaftlichen Dreierbund. Ist Kallemann wieder da, wo er war, bevor er Tulpe und Lina kennenlernte?
Doch er war natürlich nicht der einzige Kotzbrocken auf der Welt. Ausgerechnet so einer – in weiblich – ist in das Gartenhaus neben ihm gezogen. Kallemann sieht in der Frau jemanden, der so ist, wie er einst war. Doch auch bei ihr vollzieht sich Änderung. Und sie ist nicht mehr allein. Ihr ist eine Pudeldame zugelaufen. Als die beiden menschlichen Nachbarn eine Schrebergartenparty veranstalten, bei der es leckere Sachen zu essen gibt, lädt sich jemand selbst ein…
Man könnte „Tulpe“ als modernes Märchen, „was für’s Herz halt“, abtun, doch das in lockerem Stil geschriebene Buch, das für Jugendliche ebenso gut zu lesen ist, wie für Erwachsene, ist mehr. Es verdeutlicht den Leserinnen und Lesern, dass im Grunde jeder Mensch an den Reaktionen seiner Bezugspersonen merkt, wie er oder sie von diesen wahrgenomme wird. Und dass es nie zu spät ist, an sich und seinem Verhalten zu arbeiten. Um für andere ein angenehmerer Zeitgenosse und selbst ein zufriedenerer Mensch zu werden.
Manchmal haben diese Bezugspersonen auch vier Beine. Bekanntermaßen sind Hunde ja auch nur Menschen…
Thomas Letocha, Tulpe – Gewissen auf vier Pfoten. Harper Collins, Hamburg 2023. 224 S. 20 Euro, E-Book 15,99 Euro
Thomas Letocha. Foto: privat
Thomas Letocha, geboren 1958 in Frankfurt, ist Drehbuch-, Theater- und Romanautor. Gemeinsam mit Andreas Föhr hat er über 250 Drehbücher für das deutsche Fernsehen verfasst, u. a. für Serien wie „Die Rosenheim-Cops“, „Der Bulle von Tölz“, „Der Alte“ und „Cobra 11“. Er lebt in München und Südtirol.