Der Hund Ritchie

Der Hund Ritchie

Vom Nobody in Valencia zum Katalonischen Zwergwolf im Rheinland

Von seinem Herrchen Jürgen Streich

Ein Sonntagnachmittag im Mai 2009. Meine Lebensgefährtin Elisabeth und ich spazierten an einem Erholungssee im Kölner Norden entlang. Fast genau vier Jahre war es nun her, dass wir unseren Hund Boomer in seinem Lieblingswald beerdigt haben. In Gedanken blieb er immer da, als Individuum so präsent, dass wir nicht ohne angemessene Zwischenzeit von einem zum nächsten vierbeinigen Freund übergehen wollten. Doch klar war auch: Boomer war ein Botschafter für die Gattung Hund. Nachdem wir gelegentlich Artgenossen von ihm in Pflege hatten, dachten wir wieder an einen eigenen Hund. Wir überlegten, welche Rasse oder Mischung passen würde, wobei Überlegungen zu Größe und Charaktereigenschaften im Vordergrund standen. Und sollte es eine Hündin oder ein Rüde sein? Womöglich nicht mehr allzu jung, sondern „aus dem Gröbsten raus“? – Der Beantwortung all dieser Fragen wurden wir entledigt, als er an diesem Frühlings-Sonntagnachmittag plötzlich mitten auf dem Weg bei uns stand: ein mittelgroßer Rüde, ein wenig mager, aber bildschön, ängstlich und orientierungslos. Auf den ersten Blick ein kleiner Schäferhund, dafür aber zu gedrungen und zu wuschelig. Jedenfalls das Bild von einem Hund.

Doch der Reihe nach: Er war allein, als wir ihn erblickten. Spaziergänger, die mit einer ganzen Hundeschar unterwegs waren, liehen uns bereitwillig eine Leine und ein Halsband und konnten sich die Herkunft unseres Findlings auch nicht erklären. So nahmen wir diesen mit zu unserem Auto. Dort hatte der Hund Angst davor einzusteigen, doch es gelang mir, ihn hineinzuheben und während der Fahrt nach Hause etwas zu beruhigen.

In der Wohnung angekommen, wirkte er zunächst immer noch sehr unsicher. Vor einem Ball wollte er sich verstecken, so als habe er Angst, man wolle damit auf ihn werfen, um ihm weh zu tun. Was mochte ihm geschehen sein? Glücklicherweise waren wir durch unsere Pflegehunde ausgestattet mit Fress- und Trinknapf, Futter und Leckerchen. Und Hunger hatte er! Er schien sich von Elisabeth bestens versorgt zu fühlen, fraß und trank ausgiebig. Anschließend taute er ein wenig auf, kugelte sich auf den Rücken und ließ sich genüsslich Hals, Rippen und Bauch kraulen. Er begann sogar eine witzige Rangelei mit mir, während der er spielerisch nach meinen Händen schnappte und dann, wenn er sie erwischte, niemals zubiss. Dabei wedelte er zum ersten Mal, seit wir auf ihn getroffen waren, mit dem Schwanz. Noch hatte er keinen Laut von sich gegeben.

Für die Nacht holten wir Boomers Körbchen aus dem Keller, auch ein passendes Hundekissen hatten wir parat. Doch wir kannten nicht einmal den Namen unseres Gastes. Oder hatte er womöglich gar keinen? Auf die üblichen Kommandos reagierte er nicht, doch er war stubenrein.

Gastfreundlich und hilfsbereit, wie sie ist, nahm Elisabeth sich am Folgetag Urlaub vom Büro, auch ich ließ meine Arbeit ruhen. Doch noch vor dem ersten Gassi-Gang jagte Mister Nobody, wie wir ihn zunächst nannten, uns einen gewaltigen Schrecken ein: Während Elisabeth noch im Badezimmer zugange war, lag Nobody gemütlich im Körbchen. Ich gab ihm durch Worte und Gestik zu verstehen, dass er dort auch bleiben solle und lehnte, um Post und Zeitung hereinzuholen, für wenige Sekunden Schlafzimmer-, Wohnungs- und Haustür an. Doch der Augenblick hatte Nobody genügt, mit der Nase alle drei Türen zu öffnen und sich an mir vorbei auf einen Weg zu machen, den er nicht kennen konnte. Mit Türen kannte er sich aus und es zog ihn unbändig in die Freiheit.

Doch die konnte gefährlich werden. Die von Autos ausgehende Gefahr ignorierte er völlig und auch in dieser Gegend schießen Jäger immer wieder auf Hunde, die angeblich dasselbe tun, wie sie selbst, nämlich jagen. Vor allem aber strebte Nobody in zügigem Trab über einen Friedhof und eine Landstraße hinweg einem großen Waldgebiet zu, in dem ich ihn niemals wiedergefunden hätte, da er ja nicht auf mich hörte.

Ich trug noch Hausschuhe und war gesundheitlich bedingt auch sonst nicht der Schnellste, durfte ihn aber nicht aus den Augen verlieren. Bei dieser Verfolgungsjagd gab ich mein Bestes, doch selbst ein junger Handwerker, den ich im Vorbeilaufen um Unterstützung anflehte, kapitulierte nach einem Sprint. Inzwischen war Nobody auch im Nirwana verschwunden, ich sah ihn nicht mehr. Da hielt ein Auto neben mir und die junge Fahrerin befahl: „Einsteigen!“ – Sie hatte Nobody und mich nacheinander über den Friedhof rennen gesehen und die Situation erfasst. Die alte Volksweisheit „Wenn man denkt, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“ bewahrheitete sich in diesem Moment.

Zielgerichtet „übersah“ die Frau genau wie ich das Schild, das uns darauf hinwies, dass wir ab nun in falscher Richtung durch eine Einbahnstraße fuhren. Dann sahen wir den Flüchtling, schlossen zu ihm auf, fuhren neben ihm her. Doch all unsere Rufe beeindruckten ihn nicht, er rannte weiter. Inzwischen war der Wald keine Minute mehr entfernt. Da bremste die Fahrerin plötzlich scharf, sprang aus dem Auto, holte den Hund ein und schrie im Lauf einfach: „Stop!“ Tatsächlich blieb er sofort stehen und legte sich flach hin. Ins Auto musste ich ihn dann wieder tragen, was er sich widerstandslos gefallen ließ.

Die hilfsbereite Frau brachte uns nach Hause, wo Elisabeth bereits aufgelöst vor dem Haus wartete. Herr und Hund waren weg, die Leine war aber noch da, die Türen standen offen. Was mochte nur geschehen sein? Dann die Erlösung, als wir ausstiegen. „Ich bringe Ihnen Ihre zwei Männer zurück“, scherzte die junge Frau. Nobody wedelte mit dem Schwanz, als er seine Gastgeberin sah. Hatte die junge Frau „Ihre zwei Männer“ gesagt? „Ihre“? Und hatte ich „Herr und Hund“ gedacht?

Woher nur mochte er stammen? Er war uns ja nicht im eigentlichen Sinne weggelaufen, denn er wusste schließlich nicht, wohin er gehörte. Das und vieles andere galt es herauszufinden. Freunde empfahlen uns eine speziell im Hundeschutz sehr engagierte Frau im Nachbarort, die sogar über ein Gerät verfügte, mit dem man Chips lesen kann, wenn ein Hund denn gechipt ist. Das bezweifelte ich bei unserem Gast. Hatte ich „Gast“ gedacht?

Tatsächlich erhielten wir erste Hinweise auf seine Identität, doch Details scheiterten zunächst an Sprachproblemen. Soviel erfuhren wir aber: Unser Nobody hieß Ritchie. Zuletzt registriert war er im spanischen Valencia. Angeblich war er vier Jahre alt. Und „Macho“ – also männlich. Dass er ein Rüde war, hatten wir allerdings selbst schon festgestellt. So etwas geht ohne Fremdsprachenkenntnisse, wesentliche Dinge des Lebens sind international.

„Unser“ Ritchie? – Wohl eher doch nicht. Sein Zuhause war in Valencia, dort waren sei-ne rechtmäßigen Besitzer traurig um den Verlust ihres vierbeinigen Freundes, er selbst um den Verlust seiner zweibeinigen Freunde. Selbstverständlich würden Elisabeth und ich zur Familienzusammenführung beitragen, das war unter Hundefreunden doch Ehrensache. Tatsächlich reagierte er auf „Olé!“ Und dann – erst zögerlich, aber immer mehr – auf seinen Namen. Wir waren also an der richtigen Adresse und erfuhren, dass er auch geimpft war. Es schien ihm zu Hause gut gegangen zu sein, schließlich wirkte er gepflegt, als wir ihn auflasen. Dass er sehr mager und verängstigt war, ließ allerdings auf eine zurückliegende Strapaze schließen. Wie nur mochte er hierher gelangt sein? – Wir würden froh sein, zu seiner Heimkehr beitragen zu können, und ein wenig traurig darüber, dass er dann wieder so weit weg sein würde, denn schon nach so kurzer Zeit hatten wir ihn in unsere Herzen geschlossen. Ihm schien es in seinem Pflegeheim auch gut zu gefallen, denn er lernte schnell und gerne deutsche Vokabeln – vor allem dann, wenn sie Spaziergänge, Mahlzeiten, Spiele oder Krauleinheiten ankündigten. Ritchie suchte sich Lieblingsplätze in unserer Wohnung aus, wollte mit uns schmusen.

Doch bevor wir seine Rückreise organisierten und uns wieder trennen mussten, wollten wir ihn einigen hundebegeisterten Freunden zeigen. Einer davon, Axel,  hat eine Hundeschule und züchtet Schäferhunde, kennt sich aber auch sehr gut mit anderen Hunderassen und Mischlingen aus. „Ein schöner Kerl!“, befand er und fragte nach: „Vier Jahre alt? Und aus Spanien?“ – Nachdem wir beides bejaht hatten, wurden Fachbücher gewälzt. „Alles spricht dafür, dass Ritchie ein Exemplar des seltenen Katalonischen Zwergwolfes ist. Weiß Husky das schon?“

Husky, mit deutschem Vornamen Wilhelm, wohnt und wirkt in Axels Nachbarschaft und gehört als Ehrenmitglied einem amerikanischen Indianerstamm an. Husky war, daher sein Name, sogar Hundeschlitten-Weltmeister. Über Hunderassen, die dem Wolf noch nah verwandt sind, weiß er fast alles. Er betonte zwar, mehr „unter den nordischen Arten zu Hause“ zu sein, bestätigte aber Axels Einordnung. An einen befreundeten Zoologie-Professor mailte ich Fotos und eine detaillierte Beschreibung: 

„Schulterhöhe 40 cm, Länge von Nase bis Schwanzansatz knapp 100 cm, Rute 40 cm. Gewicht circa 25 kg. Augenfarbe braun. Statur gedrungener als bei altdeutschem oder belgischem Schäferhund. – Fell insgesamt sehr glänzend. An Ohrenrückseite und darunter lange, helle Strähnen. Vom vorderen Hals beginnend wesentlich längeres Fell, das den Eindruck eines Kragens vermittelt, sich aber nach hinten fortsetzt. An den Vorderseiten der Läufe jedoch kurz und glatt, allerdings an den Rückseiten länger und deutlich ausgefranst. Brust- und Bauch dicht behaart. Rute kräftig und sehr buschig, rund aus-laufend. Auffällig auch dichtes und langes Fell zwischen den Ballen. – Färbung völlig symmetrisch. Am Kopf beige mit dunklen, beidseitig gleichen Einfärbungen, vom Hals- bis zum Rutenansatz von oben her tiefschwarz bis über die Brustseiten und hinteren Flanken, darunter zunächst beige, ins Goldene übergehend.“

Der Zoologe bestätigte: Ganz offenkundig besaßen wir ein Exemplar des lange vermissten Katalonischen Zwergwolfes. Kollegen des Professors interessierten sich bereits dafür, wo dieses in Augenschein zu nehmen sei. – Besaßen wir das „Exemplar“? Wollten wir Ritchie nicht nach Hause bringen – und waren dazu auch verpflichtet? Auf keinen Fall würden wir zulassen, dass er in ein steriles Untersuchungsgehege oder gar einen Käfig kommen würde, irgendwohin, wo es ihm nicht gut ging.

Um nicht von Kollegen, die sich über meine plötzliche Abwesenheit wunderten, genervt zu werden, hatte ich das Handy abgeschaltet. Umso voller waren der Anrufbeantworter und das E-Mail-Postfach. Unsere Freunde Maria und Horst und die Tierschützerin Regina hatten weiter recherchiert, wir sollten dringend zurückrufen. Und dann trauten wir unseren Ohren nicht zu glauben: Die Vorbesitzer wollten Ritchie nicht mehr zurück, wir sollten ihn behalten. In Valencia könne er nicht mehr leben. – Machten die dort etwa Jagd selbst auf Zwergwölfe? Hierzulande wurden ja auch immer wieder Wölfe von übermotivierten Jägern und uninformierten Polizisten erschossen. Jedenfalls würde Ritchie nun sein ganzes weiteres Leben lang bei uns zu Hause sein – so sicher wie möglich. Er, dieser witzige und liebe Kerl, nahm das dankbar an und lernte schnell.

Einmal noch, als ich meiner Schwester und meinem Schwager zeigen wollte, wie gut er schon Deutsch gelernt hat, stach ihn der Hafer und er lief allein in die Felder, diesmal allerdings auf seinem Haupt-Spaziergangsweg. Meine Schwester lief hinterher, doch auf sie hörte er nicht. Ich, noch immer fußkrank, nahm lieber gleich unser Mini-Auto und fuhr ihm über Feldwege aus der anderen Richtung entgegen. Als ich bei ihm war, begann der Racker glatt ein neues Spiel: Immer, wenn ich ihn erreicht hatte, drehte er um und lief in die Gegenrichtung, er schien mich dabei gar noch auszulachen. Das konnte dauern und meinen Bedarf an Wendemanövern schnell übersteigen. Hoffentlich schaute niemand zu… Ich war es bald leid, hielt an und rief ein scharfes „Stop!“, was er ja schon kannte. Sofort legte er sich ins regennasse Gras, und ich mich – stolpernd und daher ungewollt – direkt neben ihn. Er wedelte mit dem Schwanz, als ich ihn an die Leine machte. Statt erst ein Wörtchen mit ihm zu reden, wäre ich besser gleich aufgestanden. Ich hatte in der Hektik in dem ebenen Gelände nämlich keinen Gang eingelegt und auch die Handbremse nicht angezogen. Und während meiner Moralpredigt übersehen, wie unser Auto sich rückwärts in Bewegung gesetzt hatte und erst an meinem Bein stoppte. Da saß ich nun mit Ritchie in der Linken und dem Auto auf dem rechten Hosenbein. Dann kam meine Schwester aus der anderen Richtung hinzu – immerhin mit Regenschirm – und lachte. Ich war sauer. Ein Schelm, der weiterdenkt, wie ich mich ohne menschliche Hilfe nur aus der Situation hätte befreien können…

Ritchie hat auch heute noch manche Flause im Kopf. Aber wie sagt man? – Wie der Herr, so´s Gescherr. Da ist offenkundig etwas dran, denn, liebe Leserin, lieber Leser, diese Geschichte ist teils geflunkert, weitenteils aber wahr. Um ehrlich zu sein:

Wir kannten das Bild von einem Hund, das Ritchie zeigte, eine Beschreibung, seinen Namen und sein angebliches Geburtsjahr, bevor wir ihn je gesehen haben. Da wir sowieso wieder einen Hund haben wollten, sind Elisabeth und ich von Freunden gebeten worden, Ritchie zumindest eine Pflegestelle anzubieten, bis er vermittelt ist, andernfalls werde er in einem spanischen Tierheim bald von den Behörden eingeschläfert. Als wir ihn im Norden von Köln (Fast-Kölner wie wir ignorieren einfach, dass es der Süden von Düsseldorf war) in Empfang nahmen, hatte er gemeinsam mit fast 30 Artgenossen eine über 24-stündige Reise in einem eigens dafür umgebauten „Hunderettungs-Bus“ durch halb Europa hinter sich.

Die Rassebezeichnung „Katalonischer Zwergwolf“ kam so zustande: In der Tierabteilung unseres Bücherregals steht gut sichtbar ein Bildband über Wölfe. Der Kragen des Wolfes auf der Titelseite errinnerte mich an Ritchies Kragen. Dann spielte der von mir (bei der Erstpublikation dieses Artikels noch, Anm. JS 2022) geschätzte FC Barcelona (statt zig Millionen Euro für Trikotwerbung einzunehmen wirbt „Barca“ für UNICEF und spendet selbst an das Kinderhilfswerk!) im Fußball-Champions-League-Finale gegen Manchester United und gewann. Barcelona ist die Hauptstadt von Katalonien, Valencia liegt südwestlich nebenan. Als ich in diesen Tagen nach der Rasse unseres neuen Freundes gefragt wurde, erfand ich den „Katalonischen Zwergwolf“. Der komme nur an den Südhängen der Pyrenäen vor, und das mittlerweile sehr selten. Wir wüßten nicht, wie er in das Tierheim in Valencia geraten sei. Was auch stimmt.

Fast alle haben die Rassebezeichnung geglaubt. Und wenn ich den Scherz aufklärte, fanden manche, dass ich diesen aufschreiben solle. Das habe ich hiermit getan. Und ich schwöre: Das meiste ist wahr! Vor allem dieses: Der „Katalonische Zwergwolf“ Ritchie ist nicht nur selten, sondern absolut einzigartig!

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Der ebenstehende Text ist zuerst im „Hunde-Ja(hr)-Buch Zwei“ (2009) im Mariposa Verlag erschienen. (www.mariposa-verlag.de, Inh.: Ursula Strüwer, Drakestraße 8a, 12205 Berlin, Tel.: 030-2157493, E-Mail: info@mariposa-verlag.de)

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