Putin im Wartezimmer
Ein politischer (Arzt)Roman von Lou Bihl
Von Jürgen Streich
Die Gruppe, um die es in politischen Arztroman „Putin im Wartezimmer“ geht, ist ausgesprochen divers. Regelmäßig treffen sich darin ein Historiker, ein Computer-Nerd, ein Kommunalpolitiker, eine scheinbar demente ehemalige Ingenieurin, die junge Praxis-Putzhilfe mit Migrationshintergrund im Wartezimmer von Frau Doktor, die jeweils später hinzukommt und namenlos bleibt. Doch eines verbindet sie: Die Patienten sind oder fühlen sich zu dick. Sie reden mit Frau Doktor und untereinander über ihre wirkliche oder eingebildete Adipositas und darüber, wie sie die zu vielen Pfunde wieder loswerden können. Bevor sie bei den Treffen zur eigentlichen Sache kommen, diskutieren sie über die Probleme dieser Welt, allen voran den Ukrainekrieg, der bei Erscheinen des Buches im Frühjahr 2023 in sein zweites Jahr ging. Der russische Präsident Wladimir Putin ist quasi allgegenwärtig im Wartezimmer.
Dabei reicht die Altersspanne der Diskutanten von 19 bis 73 Jahre, ihre Lebenserfahrungen, sozialen Hintergründe und politischen Ansichten könnten kaum unterschiedlicher sein. Doch sie hören einander trotz aller Differenzen zu. Vielleicht, weil sie eigentlich wegen etwas ganz anderem in der Arztpraxis sind. Dabei wird es mitunter durchaus hitzig. Doch die Diskutanten pflegen, während sie noch auf die Ärztin warten, eine beachtliche Streitkultur, wenngleich es mitunter auch persönlich wird. Doch solche Grenzüberschreitungen werden regelmäßig wieder eingefangen. Und wenn die Medizinerin hinzukommt, moderiert sie zurückhaltend, bevor sie auf die wahren oder eingebildeten Gewichtsprobleme der Wartenden zu sprechen kommt. So kommt – fernab des mächtigen Despoten im Moskauer Kreml – manche bedenkenswerte Sichtweise und sogar der ein oder andere vielleicht praktikable Lösungsvorschlag zur Sprache. Man kann sich als Leserin oder Leser gut vorstellen, dass diese zumindest einzelne in der Runde zum Überdenken der eigenen Positionen bringen. Dabei enthält die Lektüre von „Putin im Wartezimmer“ auch für Menschen, die, wie der Rezensent, gut über den Ukrainekrieg informiert sind, überlegenswerte Gedankengänge. Die Autorin Lou Bihl, die selbst viele Jahre lang als Fachärztin für Radiologie praktiziert hat, hat zweifellos gut zu dem Krieg und die Machtverhältnisse auf der Welt recherchiert.
Die ehemalige Ärztin uns jetzige Autorin Lou Bihl während einer Lesung. Foto: Unken Verlag
Außerhalb der Arztpraxis hat die politikinteressierte Übergewichts-Gesprächsrunde nichts miteinander zu tun. Eigentlich. Denn eines Tages kommt es zu einem Schicksalsschlag, der eine Frau aus der Runde, die die anderen Diskutanten mitunter ziemlich genervt hat, in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Die Gruppe übernimmt die Organisastion und Durchführung eines wichtigen Termins in diesem Zusammenhang, um den sich sonst niemand gekümmert hätte. Plötzlich erfahren die Gesprächspartner mehr voneinander, als nur die Gewichtsprobleme und die Einstellung der anderen zum Ukrainekrieg. Es werden erste, zarte Band geknüpft. Es kommt zu einem Treffen von Menschen, die einander sonst nicht kennengelernt hätten und nach wie vor sehr unterschiedlich sind. Doch das wird nun nicht mehr als Hemmschwelle, als Nachteil angesehen.
Lou Bihls „Putin im Wartezimmer“ ist ein sehr gelungenes und gut lesbares Buch über außergewöhnliche Gruppendynamik vor dem Hintergrund eines unfassbaren Weltgeschehens. Das kann in Zeiten, in denen Familienbande und Freundschaften durch unterschiedliche politische Ansichten zerbrechen, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Für den Umgang miteinander ist der Inhalt des knapp 250 Seiten umfassenden Bandes – auch für Kriegsparteien? – mehr als lediglich ein positives Beispiel.
Lou Bihl, Putin im Wartezimmer. Ein politischer (Arzt)Roman. Mit Graphiken von Daniel Horowitz. Karlsruhe, 2023. Ca. 250 S., 22 €