Dreischichtenmodell als Weg zur Vollbeschäftigung?

Dreischichtenmodell als Weg zur Vollbeschäftigung?

Große Aufmerksamkeit für den Bericht an den Club of Rome über die Zukunft der Arbeit


Diese Buchvorstellung habe ich 1998 für die von der International Partnership Initiative herausgegebene Zeitschrift „I.P.I.-News“ verfasst. Die Vorschläge des Autorenduos Orio Giarini und Patrick M. Liedtke wirken auch fast ein Vierteljahrhundert später noch bemerkenswert aktuell. Sowohl von der Hardcover- als auch von der Taschenbuchausgabe sind antiquarische Exemplare erhältlich.


Von Jürgen Streich

„Nichts ist kraftvoller als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“ – eine Erkenntnis des französischen Dichters Victor Hugo, die sich all jene, die bei der Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft mitwirken, zu Gemüte führen sollten. Denn zur Lösung der drängendsten Probleme braucht die Menschheit neue Ideen. Und Visionen sind das beste Mittel, um junge Menschen dafür zu gewinnen, Verantwortung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu übernehmen.

Eine der Hauptsorgen weltweit ist das anhaltende Beschäftigungsdilemma. Mit ihm setzen sich die Wirtschaftswissenschaftler Orio Giarini aus der Schweiz und Patrick M. Liedtke aus Deutschland im neuen Bericht an den Club of Rome auseinander. Gerade einmal vierzehn Tage war die deutsche Ausgabe unter dem Titel „Wie wir arbeiten werden“ (Hoffmann und Campe Verlag, DM 39,80) auf dem Markt, da war die 10.000 Exemplare umfassende Erstauflage auch schon verkauft, wussten die Autoren kaum noch, den vielen Wünschen nach Vorträgen und Interviews nachzukommen. Diese große Aufmerksamkeit dürfte im Mut zur Innovation begründet sein, den Giarini und Liedtke beweisen.

„Wir sind, was wir tun“

Tatsächlich stellen sie Vollbeschäftigung als ein Ziel dar, das durchaus zu erreichen ist. Voraussetzungen dafür sind ihrer Ansicht nach allerdings einschneidende Veränderungen bei der Bewertung von Arbeit und der Verteilung von Einkommen.

Die Autoren präsentieren ein Modell, das auf zwei Grundannahmen basiert: Erstens der, dass „wird sind, was wir tun“, wir unsere eigene und die gesellschaftliche Stellung anderer also viel mehr durch das, was wir leisten, als das, was wir konsumieren, definieren. Die soziale Aufgabe der Gemeinwesen besteht demnach nicht lediglich darin, den Menschen das Existenzminimum zu sichern (etwa durch die Zahlung von Sozialhilfe), sondern vielmehr darin, ihnen Beschäftigung zu geben.

Die zweite Grundannahme Giarinis und Liedtkes: Sämtliche in einem Gemeinwesen verrichteten Arbeiten – und zwar auch bisher nicht bezahlte und/oder volkswirtschaftlich nicht bewertete Tätigkeiten machen in ihrer Gesamtheit den Arbeitsmarkt aus. Bei dessen Neuorganisation müssen Tätigkeiten wie Haushaltsführung, Kindererziehung, Zivildienst etc. anders als bisher einbezogen werden. (Für Deutschland berechnete das Bundesfamilienministerium 1994 gemeinsam mit dem Statistischen Bundesamt, dass das Brutto-Inlandsprodukt um ein Drittel höher ausfiele, wenn die unbezahlte Arbeit in Familie, Haushalt und / oder Ehrenamt lediglich mit dem Netto-Stundensatz einer Hauswirtschafterin bewertet würde.)

Das Dreischichtenmodell

Das von Giarini und Liedtke vorgeschlagene Dreischichtenmodell besagt, dass sämtliche Ressourcen, die derzeit für Arbeitslosenunterstützung, Lohnsubventionierung und Sozialhilfe nötig sind, zur Finanzierung der ersten Schicht aufgewendet werden. Diese soll jedem Menschem vom 18. Lebensjahr an eine Beschäftigung von 20 Wochenstunden garantieren, sodass mit dem Einkommen die grundlegenden Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Wohnung und medizinische Versorgung befriedigt werden können.

Die zweite Schicht basiert nach wie vor auf einem freien Arbeitsmarkt. Hier können die Menschen ihre Arbeitskraft und Fähigkeiten über die erste Schicht hinaus teils als freie Unternehmer, teils als Angestellte bei anderen Selbständigen einbringen. Bei manchen werden diese Tätigkeiten ein solches Ausmaß haben, dass für sie die erste Schicht entfällt. Diese zweite Schicht, betonen Giarini und Liedtke, sollte von staatlichen Eingriffen weitestgehend frei bleiben.

In der dritten Schicht werden ebenfalls freiwillig, hier aber unbezahlt, gemeinnützige Tätigkeiten verrichtet. Die Autoren des Berichtes an den Club of Rome weisen darauf hin, dass schon heute gut zwanzig Prozent der Menschen im Erwerbstätigenalter ihre Qualifikationen, Erfahrungen und Bestrebungen ehrenamtlich im Sinne des Gemeinwohls einbringen. Giarini und Liedtke mutmaßen, dass die neue Verteilung der unterschiedlichen Arbeiten auf die verschiedenen Schichten zu gesellschaftlich höherem Ansehen gemeinnütziger Tätigkeiten führen wird.

Flexibilität im weitesten Sinne

Ein nach diesem Modell organisierter Arbeitsmarkt fordert von allen Beteiligten Flexibilität, bietet aber auch Entfaltungsmöglichkeiten und andere Vorteile. Die Autoren streichen heraus, dass es für Jugendliche Chancen beinhaltet, noch während ihrer Ausbildung Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt zu sammeln und „fließend“ in ihn integriert zu werden. Ältere Menschen wiederum könnten einen gleitenden Übergang in den Ruhestand absolvieren, ihre von langer Erfahrung gekennzeichneten Fähigkeiten aber in dem Maße, in dem sie es wünschen, weiterhin in die Arbeitswelt einbringen. Der oft als hart empfundene Übergang ins Pensionärsdasein kann so abgemildert werden. Dadurch, dass die Menschen während ihres Arbeitslebens in der zweiten Schicht zusätzliche Pensionsansprüche erzielten, argumentieren Giarini und Liedtke, werden die Rentenkassen entlastet. Frauen, die nach Kinderpausen zurück ins Berufsleben streben, werde die Wiedereingliederung erleichtert.

Die Wirtschaftswissenschaftler führen als weiteren Vorteil ihres Modells an, dass Menschen, die Einfluss darauf haben, was und wieviel sie über die „Basisbeschäftigung“ in der ersten Schicht hinaus arbeiten wollen, besser motiviert seien und bessere Ergebnisse lieferten. Außerdem fördere es ein besseres gesellschaftliches Klima, dass den Menschen die Furcht vor einem völligen Verlust der Arbeit und die damit verbundene Existenzangst weitgehend genommen sei.

Orio Giarini und Patrick M. Liedtke verknüpfen das Dreischichtenmodell mit Milton Friedmans Idee einer „negativen Einkommenssteuer“. Dieses Sozialprogramm besagt, dass jede Person, die kein eigenes Einkommen hat, von der öffentlichen Hand eine Basisunterstützung erhält, wer geringe Einkünfte hat, weniger. Überschreiten die Einnahmen eine bestimmte Grenze, gibt es keinerlei Zuschüsse mehr, der Betreffende hat für seine Sozialversicherung selbst aufzukommen. Der Staat würde so entlastet, während die Löhne und Gehälter viel weniger als heute durch Abgaben geschmälert würden. Wenn das Verhältnis zwischen Rücknahme der Beihilfe und selbst verdientem Geld geschickt gewählt werde, so Giarini und Liedtke, bleibe der Ansporn, mehr zu arbeiten, erhalten.

Vor- und Nachteile von Telearbeit

Die Autoren des Berichtes an den Club of Rome haben einen Blick in die Zukunft gewagt. Sie gehen davon aus, dass immer mehr Arbeit an Computern verrichtet und die Zahl der Telearbeitsplätze zunehmen wird. „Damit entsteht künftig eine Teilung der Arbeitszeit“, schreiben sie, „zwischen dem traditionellen Büro im Innenstadtbereich, einem gemeinschaftlich genutzten Nachbarschaftsbüro, das möglicherweise durch eine dritte Partei betrieben wird, und der Wohnung des Arbeitnehmers.“ Durch die Möglichkeiten der Datenübertragung via Telefonleitungen stehe ein „unflexibler Aspekt unserer Arbeitskultur zur Disposition“: Ort und Zeit der Arbeitsleistung.

Hierin liegen Vorteile. Arbeitgeber können Kräfte mit bestimmten Qualifikationen weit über das Einzugsgebiet der Berufspendler hinaus suchen und beschäftigen. Weiter werden sich, das erwarten Giarini und Liedtke, Kosteneinsparungen, verbesserter Kundendienst und organisatorische Flexibilität positiv auswirken. Zudem bietet Telearbeit Berufschancen für ansonsten auf dem Arbeitsmarkt benachteiligte Gruppen, beispielsweise erziehende Frauen oder Behinderte und alle, die ihr „Leben nicht gemäß traditioneller Vorgaben der Präsenzsysteme in Frabrik und Büro“, sondern nach „persönlichen Präferenzen einrichten“ wollen.

Doch die Autoren der Studie warnen, dass diese neuen Freiheiten auch Probleme mit sich bringen können. Zunehmende Telearbeit erfordere neue Managementmethoden, die erst noch entwickelt und in der Praxis erprobt werden müssten. Zudem werde sich die traditionelle Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer verändern, was wiederum zu Problemen unter den Tarifpartnern führen könne.

In dem Bericht an den Club of Rome wird darauf hingewiesen, dass „sich Privat- und Geschäftsleben immer stärker durchdringen werden und die Trennungslinie zwischen ihnen sich zunehmend verwischen“ wird. Das wiederum führe zu einer „Erosion der gegenwärtigen Organisation unserer Gesellschaft, in der bislang eine mehr oder weniger ausgeprägte Trennung der beiden Sphären die Regel ist.“

Umweltschutz schafft Arbeitsplätze

In einem eigenen Kapitel streichen die Autoren von „Wie wir arbeiten werden“ heraus, dass sowohl vorbeugender als auch nachsorgender Umweltschutz Arbeitsplätze schaffen wird. Sie verweisen auf einen früheren Bericht an den Club of Rome, „Faktor Vier“, sowie Untersuchungen von Walter Stahel vom Genfer Institut für Produktdauer-Forschung. Beide kommen zu dem Ergebnis, dass Lebensdauer-Verdopplung von Gegenständen neben einer Halbierung der Umweltbelastung bei Herstellung, Nutzung und Entsorgung auch zu mehr Arbeitsplätzen führen. Langlebige Produkte sind zumeist arbeitsintensiver herzustellen, als andere.

Neue Wirtschaftszweige werden beim Leasing und der Vermietung von Geräten entstehen, denn den Konsumenten geht es in erster Linie um den Nutzen. Für ihn ist es ein Vorteil, wenn er sich nicht um die Entsorgung ausgedienter Geräte kümmern muss. Diese stellt ebenso, wie das Recycling, längst eine eigene Branche dar und kostet Geld. Das bedeutet jedoch, dass Verleiher ihrerseits an langlebigen Produkten interessiert sind.

Für besseres Verständnis ein Blick zurück

Neben solchen Zukunftsprognosen enthält „Wie wir arbeiten werden“ auch einen ausführlichen Blick zurück, diesen aber nicht etwa im Zorn. Interessant und gut verständlich stellen die Autoren die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftsphilosophie dar und analysieren deren wesentliche Aspekte, Errungenschaften und Fehler. Die Probleme, vor denen wir heute stehen, werden so auch für Laien nachvollziehbar. An 21 Stellen haben Giarini und Liedtke zudem „Kontroverse Thesen“, Zusammenfassungen und Erörterungen eigener und anderer Standpunkte, eingefügt. Orio Giarini und Patrick M. Liedtke ist mehr als ein Diskussionsbeitrag gelungen: „Wie wir arbeiten werden“ enthält Ausführungen darüber, warum wie gearbeitet worden ist oder Menschen in großer Zahl arbeitslos wurden. Das Modell, das nach Ansicht der Autoren aus dem Beschäftigungsdilemma herausführt, sollte Praxistests unterzogen werden. Denn längst ist die Zeit gekommen, in der kraftvolle Ideen vonnöten sind.

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